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Titelstory von:
Franziska Jäger
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Christliche Influencer*innen sind die Jet Skis der Verkündigung – vom Mehrwert der digitalen Kirche
Montagmorgen 07:00 Uhr, der Handywecker klingelt. Ich nehme das Handy von meinem Nachttisch, schalte sowohl den Wecker als auch den nächtlichen Flugmodus aus und sehe, wie mein Handydisplay aufblinkt mit dem Hinweis für 18 neue, ungelesene Nachrichten. Whatsapp, Instagram und Telegram werden nacheinander geöffnet, um die verpassten News nachzulesen. Einige Whatsapp-Chats lasse ich je nach Dringlichkeit vorerst unbeantwortet. Auf meinem Telegram-Tagesschau-Bot bekomme ich unter den Schlagzeilen über Innen- und Außenpolitik auch die neuen Corona-Fallzahlen gemeldet und auf Instagram wische ich durch die Posts, die mir der Algorithmus im Feed bevorzugt anzeigt. Ich bleibe an bunten Schriftzügen, schnell zu erfassenden Texten, markanten Fotos und aufmerksamkeitserweckenden Videos für drei bis vier Sekunden hängen. Um 07:04 Uhr schließe ich die Apps wieder und lege mein Handy zurück auf meinen Schreibtisch.
Innerhalb von vier Minuten habe ich 18 neue Nachrichten überflogen, die Schlagzeilen der Tagesschau gelesen und über mehr als 50 Bilder, Videos und Texte auf Instagram gewischt. Im Laufe des Tages, in kurzen Pausen, an der Bushaltestelle wartend oder während der zwei Minuten, in denen mein Teewasser aufkocht, überfliege ich immer wieder die News. Ich swipe über viele Posts und nehme ihren Inhalt nur bruchstückhaft wahr. All jene Bruchstücke bleiben in meinem Gedächtnis haften, die große, auffällige Schriftzüge hatten oder die knapp genug waren, in kurzer Zeit gelesen zu werden. Kann man hier von geistigem Fastfood sprechen? Bleiben komplexere Zusammenhänge, schwerverdauliche Inhalte und tiefgründigere Fragen auf der Strecke? Kann angesichts der Schnelllebigkeit und der Überflutung an Informationen Social Media überhaupt eine Plattform für Sinnfragen sein?
Sinnflucener*innen, darunter fallen auch christliche Influencer*innen, geben eine Antwort darauf. Sie stellen auf Instagram und Co tiefgründige Fragen entweder explizit oder implizit, durch den Einblick in ihren Alltag, wie sich eine christliche Glaubensüberzeugung verkörpern lässt.
Christliche Influencer*innen wie seligkeitsdinge, ja.und.amen, theresaliebt oder einschpunk sind Teil einer Suchbewegung, wie heute von Gott gesprochen und wie heute Kirche gebildet werden kann (vgl. Kuhn, J. Die Vision einer Kirche, die Digitalität liebt und lebt. futur2.org. Dez. 2020). Bei yeet und ruach.jetzt, beides christliche Content-Netzwerke, steht Gemeinschaftlichkeit im Vordergrund (Begriff von Felix Stalder). So sind die christlichen Influencer*innen nicht nur als individuelle Sprachrohre über religiöse, spirituelle oder gesellschaftskritische Themen zu hören, sondern sie agieren als virtuelle Gemeinschaft unter dem Hashtag „digitale Kirche“. Häufig benutzte Mittel für die Vernetzung sind Live-Gespräche auf Instagram, Verlinkungen in den Storys oder die thematische Synchronisierung durch gemeinsam gewählte Hashtags.
Trotz des Zusammenschlusses in Netzwerken oder einer übergreifenden Bewegung unter dem Hashtag „digitale Kirche“ ist eine große Heterogenität unter den einzelnen Akteur*innen auf Instagram zu finden. In der digitalen Glaubenskommunikation werden kaum allgemeine Glaubenssätze rezitiert. Jede Aussage trägt ihren Eigenwert, da sie aus der je eignen Perspektive getroffen wird. Dem Begriff der Kreativität kommt an dieser Stelle eine wichtige Bedeutung zu, denn er steht nicht nur für das Design der Beiträge auf Instagram, sondern eben für ihren Eigenwert, für die Neuerschaffung von Inhalten.
Der Glaube wird durch die jeweilige Biografie realisiert und wirkt durch die Mitteilung auf Social Media auch nach außen. Aus dem je eigenen Blickwinkel wird das Leben in seiner Ganzheit thematisiert: Liebe, Sexualität, Umgang mit Leid, Auseinandersetzung mit (Schönheits-) Idealen, sowie ausgewählte gesellschaftspolitische Themen, Kultur, Religion und die gelebte Spiritualität. Dabei ist eine doppelte Dynamik zu erkennen. Einerseits macht sich der/die Influencer*in durch die Preisgabe der biografischen Kernnarration angreifbar (vgl. Kuhn, J.). Damit ist gemeint, identitätsstiftende Erfahrungen zu erzählen, Emotionen wie Angst, Trauer oder Freude zu offenbaren und persönliche Gedankengänge zu äußern. Andererseits erfahren andere User*innen durch diese Preisgabe eine Ermutigung, ebenfalls ehrlich von sich zu erzählen.Biographische Kernnarrationen sind Selbstaussagen, die auf eine tiefe innere Überzeugung hinweisen. Digitale Glaubenskommunikation auf Social Media kann deshalb als bemerkenswertes Glaubenszeugnis verstanden werden. Ein Glaubenszeugnis, das sich anfragen lässt, sich dynamisch weiterentwickelt und seinen Sitz im Leben nicht verliert.
„Digitale Kirche“ ist deshalb keineswegs eine oberflächliche Kopie der „analogen Kirche“. Die „digitale Kirche“ funktioniert augenscheinlich nach anderen Mitteln als die „analoge Kirche“. Auffällig ist auf den ersten Blick, dass die digitalen Strukturen kaum hierarchische Verhältnisse, wie etwa zwischen Klerikern und Laien, aufweisen. Betrachtet man den Begriff und im zweiten Schritt die Charakteristik der „digitalen Kirche“ genauer, so ist eine neue Perspektive aufzuweisen, die eine einseitige Gegenüberstellung von „analoger“ und „digitaler Kirche“ ersetzen soll. Diese Perspektive ist in der heutigen, sich permanent wandelnden Gesellschaft unumgänglich.
„Digitale Kirche“ ist zu unterscheiden von einer digitalisierten Kirche. Eine „digitale Kirche“ übernimmt nicht einfach die Inhalte der „analogen Kirche“ in eine digitale Form und macht diese damit online global zugänglich – dies wäre unter einer digitalisierten Kirche zu verstehen. Eine „digitale Kirche“ lebt Digitalität, also ein hybrides Geflecht von analogem und digitalem Lebensraum - eine permanente Neugestaltung der Wirklichkeit durch das Zusammenfügen von technischen und kulturellen Elementen. Felix Stalder beschreibt die „Kultur der Digitalität“ in seinem gleichnamigen Werk mit drei Schlüsselbegriffen – erstens der Referentialität, einer transformativen medialen Nutzung, zweitens der Gemeinschaftlichkeit, einer Art „vernetztem Individualismus“ und drittens der Algorithmizität, der individualisierten Darstellung von Inhalten (vgl. Stalder, F. Kultur der Digitalität. Suhrkamp. Berlin 2016).
Die Kultur der Digitalität reagiert einerseits auf die Komplexität der Postmoderne, andererseits treibt sie die Wandlung der postmodernen Gesellschaft auch weiter voran. Analoger und digitaler Lebensraum verschmelzen in ihr.
In dieser Kultur der Digitalität wirkt die Kirche als global organisierte, analoge Mega-Institution wie ein träges Containerschiff auf hoher See, das bei spontanen Veränderungen nur sehr langsam die Richtung ändern kann. Christliche Influencer*innen sind mit Jet-Skis zu vergleichen, die wendig und schnell sind. Ihre Reaktionsfähigkeit in einer wandelnden Gesellschaft ist sehr hoch. Deshalb können christliche Influencer*innen als Gatekeeper*innen (vgl. Kuhn, J.) der Kirche agieren.
Eine sich wandelnde Kirche ist keine Kirche, die sich von ihren Wurzeln abwendet und sich dem Zeitgeist ergibt. Eine sich wandelnde Kirche (ecclesia semper reformanda) verweist geradezu auf urchristliche Wurzeln. Das Wesen der Kirche als Gemeinschaft von Gläubigen, die eine Bewegung des ständigen Aufbruchs lebt, war konstitutiv für das Urchristentum. Urchristlich ist ebenfalls sowohl das ‚Angesprochensein‘ des Menschen von Gott als auch die Lebensbejahung als Antwort des Menschen auf Gottes bedingungslose Zusage. Diese aktive Entscheidung, das Leben mit all seinen Schattenseiten zu bejahen, kann auch als „Selbstermächtigung unter der Zusage Gottes“ beschrieben werden (Der Begriff stammt von Jan Kuhn und folgt aus seinem Verkündigungsbegriff. Selbstermächtigung entspricht theologisch auch der Μετάνοια. „Gewissermaßen geht es in Verkündigung genau um das Gegenteil einer unhinterfragten, freiheitseinschränkenden Regelbefolgung.“ Hierzu ist eine Veröffentlichung von Kuhn in Vorbereitung). Der Mensch wird dadurch in eine neue Freiheit im Umgang mit der Vielzahl an Handlungsoptionen geführt. Er wird Akteur an und in der Schöpfung Gottes.
Die Lebensbejahung als Antwort auf Gottes bedingungslose Zusage wird sichtbar bei christlichen Influencer*innen, die gemeinsam die „digitale Kirche“ bilden. „Digitale Kirche“ ist nicht nur „Gemeinschaftlichkeit“, sondern auch Mittel, um anderen Personen die Möglichkeit derselben, freiwilligen Lebensbejahung zu eröffnen, der eigenen Existenz einen umfassenden Sinn zu geben und diese somit in einen größeren Zusammenhang zu stellen.
Sinnfluencer*innen sind also die Jet-Skis der Verkündigung auf Social Media.
Um auf meine oben gestellten Fragen zurückzukommen: Bleiben tiefgründige Fragen auf der Strecke? Kann Social Media eine Plattform der Sinnfragen sein? So ist meine Antwort vielschichtig.
Meine Displayzeiten haben sich seit dem Corona bedingten Shutdown im März 2020 vervielfacht. Ein immer größer werdender Bevölkerungsanteil hat sich auf digitale Kommunikation eingestellt. Die Maßnahmen der letzten Monate haben grundlegend etwas an unserer Kultur verändert. Eine Facette meines Lebens in einer Kultur der Digitalität besteht aus dem schnellen, oberflächlichen Swipen über Beiträge, Bilder, Texte und Videos. Andere Facetten zeigen lange Zoom-Meetings, Videocalls mit Freund*innen, wissenschaftliche Onlinerecherchen, Online-Fitnesskurse und vieles mehr. Regelmäßig nehme ich mir Zeit, einzelne ausgewählte Beiträge in ihrer vollen Länge zu lesen, mich von Videos anrühren zu lassen und Bilder auf mich wirken zu lassen. Ich versuche zu verstehen, zu differenzieren und lebensbejahende Botschaften zu verinnerlichen. Manchmal sehe ich erst im Rückblick, wie mich Texte auf neue Ideen gebracht haben, wie ich, durch Sinnfluencer*innen angeregt, neue Fragen stelle oder positiv verändert wurde. Deshalb kann ich sagen, dass die großen Sinnfragen auch auf Social Media ihren berechtigten Platz haben und sie durch die Sinnluencer*innen bereits fester Bestandteil einer Kultur der Digitalität sind.
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