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Titelstory von:
Dr. Matthias Sellmann
Bild: photocase.com
© kallejipp

 

 
   

 

Dr. Matthias Sellmann, ist Soziologe und Theologe und arbeitet als Juniorprofessor für Pastoraltheologie an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Jugendpastoral, Citypastoral, Kirchenmarketing. Intensive Vortrags-, Publikations- und Beratungsarbeit. Mitbegründer des sinnstiftermag.  
   

 

 

 

 

 

 

Kirchen- und Glaubensmarketing, oder:
Paulus reloaded

Hinführung: Von ‚Macht‘ zu ‚Markt‘

Man braucht kein Kirchenfan zu sein, um zu merken, dass sich die Kommunikationssituation dieser alten Institution stark gewandelt hat. Denn bis vor gut fünfzehn, zwanzig Jahren war man nicht nur in der Lage, die Settings und die Situationen des öffentlichen Auftrittes selber zu bestimmen. Vielmehr konnten die Kirchen eine eigene Öffentlichkeit selber schaffen, eine kirchlich-religiöse eben. Dies geschah, indem sie über das Kirchenjahr, die Sakramente und die subtilen Möglichkeiten normativer Steuerung immer wieder Anlässe zu schaffen wussten, zu denen sich die allgemeine Kultur zu verhalten hatte. Die Kirche, egal ob katholisch oder evangelisch, hatte Definitionsmacht, und es gab eine enorme Gleichförmigkeit der kulturellen mit den kirchlichen Gepflogenheiten: Sonntäglicher Kirchgang, jahrgangsweise Sakramentenspendung, der Pfarrer als geachtete öffentliche Person, Arbeitsruhe an Feiertagen, Ernstnehmen kirchlicher Moralvorstellungen, grundlegende Allgemeinbildung über zentrale kirchliche Lehrinhalte usw.

Diese komfortable kommunikative Ausgangslage unterliegt heute einem Formatwandel, den man knapp überschreiben kann als eine Entwicklung von einer Macht- in eine Marktposition. Nahezu jeder dritte Deutsche ist heute konfessionslos, so dass die Option eines religionslos geführten Lebens zur ersten großen Alternative geworden ist. Die anderen Weltreligionen wie Buddhismus oder Islam bringen als zweite Alternative zwar keine vergleichbar großen Anhängerzahlen hervor (Buddhismus etwa 250.000 Anhänger; Islam etwa 3,5 Mio), sind aber von großer Dynamik geprägt und wachsen. Die dritte Alternative bildet der sehr große und quantitativ sehr schwer zu beziffernde Anhängerkreis von individualisierter Spiritualität, die von esoterischer Lehre hinüberreicht in die großen Mentaltrends von Wellness, Motivationssport oder allgemeiner Lebenshilfe.

Von ‚Macht‘ in ‚Markt‘ zu wechseln heißt daher erstens, sich überhaupt zu gesellschaftlicher Pluralität zu verhalten, diese zu bejahen und in einem sozusagen sportlichen Sinn anzunehmen. Zwar genießen die christlichen Kirchen dabei weiterhin einen enorm hohen Bekanntsheitsgrad. Doch dahinter liegt eine tiefe Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise. Wie etwa die große Online-Befragung ‚Perspektive Deutschland‘ (u.a. durch ZDF und McKinsey) zuletzt 2006 ergeben hat, bringen nicht einmal die Hälfte der Bundesbürger den Kirchen als Institutionen Vertrauen entgegen, und – was in kommunikativer Hinsicht noch alarmierender sein dürfte – sie reklamieren auch keinen Verbesserungsbedarf. Man hat das Interesse an den Kirchen verloren, sie gelten vielen als ein Parallelkosmos, der in Umlaufbahnen schwebt, die die eigenen nicht mehr kreuzen.

Konsequenzen für Kommunikation

Es gibt damit mehr als genug Anlässe, kirchlicherseits wirksame Kommunikationsstrategien zu fahren. Mindestens drei professionelle Zielrichtungen legen sich nah: Ganz basal steht da erstens das institutionelle Erhaltungsinteresse der Kirchen als gesellschaftlicher Institutionen. Auch sie haben das Recht – und sei dies in den eigenen Reihen noch so unpopulär – auf sich aufmerksam zu machen und sich für wichtig genug zu halten, um Mitglieder zu werben. Ja, in einer Marktdiktion müsste man sogar sagen, dass es ganz seltsam wäre, wenn die Kirchen nicht auch in dieser Hinsicht als Mitbewerber aufträten. Denn das Ausblenden der eigenen Selbsterhaltung und der Werbung um Anhänger wäre als Signal zu lesen, dass man den eigenen Institutionszweck als entbehrlich ansähe, was wiederum auf die bestehenden Anhänger so wirken würde, als gehörte man zu einer Verlierertruppe. Nein, auch die Kirchen dürfen stolz sein auf das, was sie für die Gesellschaft leisten und bedeuten, und das dürfen sie in berechtigtem Eigeninteresse auch öffentlich kommunizieren.

Zweitens ist da die Botschaft, die message – aufgrund derer es die Institution ja überhaupt gibt. Kirchen wollen das Bewusstsein dafür wachhalten, dass Gott ein Versprechen abgegeben hat, nämlich Jahwe zu sein, das heißt, für jeden Menschen da zu sein. Kirchen gibt es, damit Gott nicht vergessen wird, und Kirchen gibt es, damit Gott sein Versprechen nicht vergisst.

Die dritte Zielrichtung dreht die Reihenfolge: Während das erste Ziel ‚Kirchenkommunikation‘ und das zweite Ziel ‚Glaubenskommunikation‘ als eine Geberleistung zu identifizieren ist, kann das dritte Ziel als Lernleistung beschrieben werden. Kirchen können sehr viel lernen von anderen Akteuren in der öffentlichen Kommunikation. Wie heute das knappe Gut Aufmerksamkeit zu gewinnen ist; welche Bildsprache heute die Leute erreicht; welche bisher unentdeckten Symbole von anderen in ihrer Wirkungskraft erkannt und verbreitet werden; wie sich Gott heute auch durch moderne Kommunikationstechnik bemerkbar macht – all das kann Kirche heute von denen lernen, die schon lange jene Markerfahrung haben, die die Kirchen erst für sich erobern müssen.

Aktivitäten im Kirchen- und Glaubensmarketing sind in der gegenwärtigen kulturellen Ausgangslage Gebote der Stunde. Sie lösen den Auftrag der Verkündigung ein. Sie ahmen den Apostel Paulus nach, der die Marktplätze seiner Zeit besuchte, um dort zu predigen, wo man viele Leute erreichen kann. Sie signalisieren Interesse an Öffentlichkeit und Diskussion. Sie werben um Vertrauen. Sie informieren über das, worauf man selber stolz ist. Sie spiegeln, was man selber verstanden hat. Sie machen öffentlich, was sonst verschämt und unsichtbar bliebe. Sie bezeugen eine Kirche, die mitspielt und mitkämpft und die das Feld nicht einfach allen anderen Stimmen überlässt. Kirchen- und Glaubensmarketing zeigen das Ja zur modernen Gesellschaft: Kirche zeigt sich, Kirche stellt sich, Kirche macht an.

Einige Beispiele

Wie Kirchen- und Glaubensmarketing gehen kann, sieht man am besten an Beispielen. Wer wie das Magazin Sinnstifter einfach mal recherchiert, stößt auf ein hohes Interesse der Werberszene an kirchlich-religiösen Themen, auf einen enormen Pool an Kreativität und auf echte Schätze der Kommunikationskunst. Leider wurden bisher nur wenige der richtig extrovertierten Kampagnenideen seitens kirchlicher Verantwortlicher aufgegriffen und geschaltet. Genau darum aber ist es wichtig, Beispiele zu zeigen und die Fantasie des Möglichen zu weiten. Dies dachte sich zum Beispiel der junge Designer Heiko Raffenbeul, der für seine Diplomarbeit als Kommunikationsdesigner auf die Idee kommt, die Bibel neu zu bewerben. Bezeichnend ist die Ursprungssituation: „Mein Professor hatte uns geraten, uns für die Diplomarbeit einen Inhalt zu suchen, der noch nicht so viel Gestaltung aufweist. Da bin ich gleich auf die Bibel gekommen.“ (LINK) Raffenbeul legt sofort los, und kombiniert gänzlich ungewohnte Bibelzitate mit einer gänzlich ungewohnten Auftrittsästhetik – weg von Sonnenuntergängen, weg von betulichen Mutmachsprüchen hin zu überraschender Konkretheit und Lebensnähe der Bibel. „Küß mich, küß mich, küß mich immer wieder“, heißt es da, oder: „Einer soll Wein holen, und dann betrinken wir uns“. Raffenbeuls Claim: ‚Mehr drin, als man glaubt‘ (LINK)

Das überaus anspruchsvolle Thema der Werbung um Priesterberufe behandelt der Designer Ludger Elfgen von der Agentur 11gen. Auch er setzt auf Wahrnehmungsirritation und kombiniert die Mission des Priesters mit Zitaten aus der Popkultur. Mit diesem crossculture vollzieht die Kampagne eine Doppelkommunikation: Der Priester wird als ein Geheimnisträger sichtbar, dessen Geheimnis ihn nicht in die Klausur entzieht, sondern ihn gerade in den pop, in die Menge der menschlichen Lebensideen und –erfahrungen entlässt. Das Schöne an dieser Kampagne: Sie wird gegenwärtig im Bistum Augsburg plakatiert – und sorgt für einiges an Irritation (vgl. das Heft 2/2010 der Zeitschrift ‚Lebendige Seelsorge‘, Seiten 126-129).

Eine weitere Nutzung des Trägermediums ‚Plakat‘ ist die Kampagne gott.net (vgl. www.gott.net) Die Initialzündung geschieht in den USA. Der Journalist Dieter Kohl fährt einen Highway entlang und sieht plötzlich ein überdimensional großes Schild mit der einfachen Botschaft: „I love you.I love you. I love you. – God.“ Kohl nimmt die Idee mit nach Deutschland und gründet den überkonfessionellen Verein ‚gott.net‘. Schnell finden sich Sponsoren, die ein Großflächenplakat in einer Auflage von 3.000 Stück möglich machen. Es ist schlicht, schwarz und transportiert eine klare Botschaft:

Als Autobahnplakat realisiert das Motiv ca. 2,5 Mio Blickkontakte pro Monat. Darüberhinaus wurde es im Jahr 2004 beim "Deutschen Plakat Grand Prix" des Fachverbands Außenwerbung e.V. mit ‚Silber‘ ausgezeichnet. Inzwischen sind weitere Motive hinzugekommen. Amerika also, Land der Ideen – auch für das Kirchenmarketing. Kann man wohl sagen, wenn man sich die im letzten Jahr gelaufene Kampagne ‚Catholics come home‘ ansieht. Allein das Erzbistum Chicago schaltet in den vier Wochen vor Weihnachten in allen großen Fernsehkanälen über 2.000 Spots. Mehrere Motive sind verfügbar: ‚Epics‘ bringt eine pathetische Vorstellung der katholischen weltumspannenden Kirche, die sowohl durch die schlichte Nachfolge wie durch Papstamt und Eucharistie geeinigt werden. ‚Movie‘ thematisiert die Schuldfrage eines Lebens und die Frage nach Versöhnung mit sich selbst, den Anderen und Gott. Hinzu kommen testimonials verschiedener Leute, die zur katholischen Kirche zurück gefunden haben. Ein riesiges Budget, eine riesige Reichweite, ein riesiges Selbstbewusstsein als Kirche – it’s America! (vgl.)


Ein inspirierendes Beispiel für eine Themenkampagne ist die Aktion ‚Mach mal Sonntag‘ des Vereins ‚Andere Zeiten‘. Auf Postkarten, Türanhängern und Plakaten wird für einen arbeitsfreien Sonntag geworben. Außerdem wird die ‚Sonntagstüte‘ verkauft. Das ist eine Wundertüte voller Wörter auf Magneten. Die Wörter stehen für ein schönes Leben. Das Wort ‚Nickerchen‘ ist dabei, ‚tirilieren‘ oder ‚sonnentag‘. Man kann die Magnete auf die Mikrowelle kleben, auf den Lampenschirm, auf den Kühlschrank – und wird so selbst zum Werber für freie Zeit (Link).

Mit Wörtern auf Lampenschirmen sind wir nah beim Print gelandet. Auch hier gibt es innovative Projekte. Als Beispiel empfehle ich die Pfarreizeitschrift ‚mittendrin‘ (Link). Die ‚mittendrin‘ macht das sonst doch eher angestaubte Genre der ‚Pfarrnachrichten‘ zu einem echten Leseerlebnis. Das Konzept besticht durch eine intelligente Themenführung, bietet Platz für die Artikel der Gemeindemitglieder, finanziert sich selbst durch Werbeanzeigen und bietet auch immer wieder mal Witz und Selbstironie. Damit wird das Magazin, so der leitende Pfarrer Bernd Wolharn, zu einem wichtigen Baustein im Zusammenwachsen der erst kürzlich fusionierten Gemeinden.

Das Panorama für Kirchenmarketing wird abgeschlossen durch einen echten great player im Feld. Schon lange bedienen sich die kirchlichen Hilfswerke wie Misereor oder Diakonie professioneller Marketingunterstützung, denn der Spendenmarkt ist sehr umkämpft. Gerade durch diese Erfahrung werden die Hilfswerke zu wichtigen Informanten für die pastoralen Akteure der Kirchen, die den werblichen Professionalisierungsgrad der Hilfswerke bisher nicht erreichen. Das Hilfswerk Adveniat hat sich zur Aufgabe gesetzt, die Kirche in Lateinamerika in ihrem Einsatz für die Armen, Benachteiligten und Minderheiten zu unterstützen. Herzstück der Arbeit ist die Jahresaktion, die jeweils ein bestimmtes Land oder Thema in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Und das nicht irgendwann: Adveniat hat den wohl begehrtesten Spendenplatz, der vorstellbar ist: die kirchliche Weihnachtskollekte am Heiligabend. Dieser Premiumplatz im Jahressegment verpflichtet aber auch: Denn der Kirchgänger will kurz und gut informiert und mobilisiert werden. Auch dies geschieht über Plakate, wenngleich das Aktionsspektrum der Jahresaktion immer auch Benefizkonzerte, Gottesdienste, Ausstellungen, Diskussionsforen und Vorträge umfasst. Im Jahr 2009 wurde zur Hilfe für das Land Haiti geworben, und dies noch vor dem großen Erdbeben (vgl.).

Die vorgestellten Beispiele zeigen, wie es gehen kann. In modernen Gesellschaften gilt: Wer etwas zu sagen hat, muss es auch zeigen können. Screens, Boards, Plakatwände, Litfaßsäulen, Homepages können hochwirksame Präsentationsorte auch für Kirchen- und Glaubensbotschaften sein. Man darf sicher sein: Paulus würde heute seine Briefe mailen und seine Predigten videopodcasten; auf den Marktplätzen würde er plakatieren, in den TV-Kanälen werben, im Netz tuben; seine Gemeinden würde er über ein i-phone verwalten und über facebook inspirieren; und sein Handy hätte als Klingelton „Steht auf, wenn Ihr Christen seid…“

nach obeN

     
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