Kirche und Marktforschung
Interview mit
Walter Erlenbach
Walter Erlenbach ist Geschäftsführer der
microm Micromarketing-Systeme und Consult GmbH. Er ist zuständig
für den Bereich räumliche und inhaltliche Datenerstellung, Methodik
sowie projekt- und kundenbezogene Anwendung. Während in der Wirtschaft
große Unternehmen seit Jahrzehnten mit Zielgruppentypologien arbeiten,
“fangen wir”, so Erlenbach, “in der Katholischen Kirche mit dem
Sammeln von Erfahrungen ja erst an.”
Als Geschäftsführer von microm
bieten Sie Ihren Kunden detaillierte Informationen über Zielgruppen,
deren Ansichten, Einstellungen und Grundorientierungen. Wie kommt
ein Unternehmen wie das Ihre zu solchen Informationen?
Microm kommt aus der Microgeographie.
Wir aggregieren kleinräumig und dem Datenschutz genügend
anonymisierte, nicht personenbezogene Daten aus unterschiedlichen
Quellen, wie z.B. unserer Muttergesellschaft Creditreform und vielen
anderen, zu verschiedenen Wohnumfeldinformationen. Unser Slogan
„Wir kennen jedes Haus“ mag in Einzelfällen nicht
immer ganz richtig sein, trifft aber ansonsten unseren flächendeckenden
Daten- und damit Analyseanspruch.
Marktforschung im eigentlichen Sinne wird
bei Sinus Sociovision betrieben. Jahr für Jahr werden inzwischen
über 33.000 Personen befragt, nach Einstellungen, Lebensstilen
und -zielen, nach Werten und natürlich auch nach Konsumgewohnheiten.
Ergebnis sind die Sinus Milieus®, die führende Zielgruppentypologie
in Deutschland. In insgesamt 10 Milieus werden jeweils Menschen
zusammengefasst, die sich in Lebensweise und Lebensauffassung ähneln,
das heißt verwandte Wertprioritäten, soziale Lagen und
Lebensstile haben.
Ihr Unternehmen arbeitet eng mit Sinus Sociovision
zusammen...
microm und Sinus Sociovision verbinden
seit 1998 erfolgreich ihre beiden unterschiedlichen Schwerpunkte
und Ergebnisse. Beide Unternehmen kannten durch ihre internationalen
Partner und Kunden die – vor allem in den angelsächsischen
Ländern – seit vielen Jahren übliche Verzahnung
von Marktforschung und Microgeographie.
Wir waren und sind von deren Sinn sowie
wirtschaftlichem Mehrwert überzeugt. Und das schon zu einem
Zeitpunkt, an dem sich die – methodisch sehr fundierte und
höchst professionell arbeitende – deutsche Marktforschung
noch vor einer Zusammenarbeit mit der Microgeographie scheute, die
zugegebenermaßen zu diesem frühen Zeitpunkt auch noch
nicht die Datenfülle und -tiefe hatte wie heute.
Sinus Sociovision und microm haben in
Deutschland als Erste diesen Schritt der Zusammenarbeit getan, und
bis heute nicht bereut. Ergebnis sind die MOSAIC Milieus®, eine
lizenzierte Adaption der Sinus Milieus®, die flächendeckend
für ganz Deutschland und inzwischen auch Österreich und
Schweiz vorliegen. Aber, um uns nicht mit falschen Federn zu schmücken:
Die Marktforscher sitzen bei Sinus Sociovision in Heidelberg
Die katholische Kirche nutzt erst seit kurzem
solche Informationen auch für ihre Arbeit. Ist es nicht viel
zu spät dafür?
Die Studie von Sinus Sociovision über
„Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus®
2005“, das so genannte Milieuhandbuch, ist doch überhaupt
mal ein Ansatz, die Probleme, die die katholische Kirche mit immer
weniger werdenden Mitgliedern, Gläubigen, hat, aus dem Blickwinkel
der Soziologie zu betrachten.
Die Verknüpfung von Theologie und
Soziologie fällt vielen Verantwortlichen in der katholischen
Kirche bestimmt nicht leicht. Ich halte es jedoch für erfolgversprechend,
und zwar für unterschiedliche Fragestellungen, wenn die vorhandenen
Kenntnisse über die Strukturierung unserer Gesellschaft auch
unter einem anderen Blickwinkel als nur dem theologischen betrachtet
werden.
Spät ist es, sowohl mit Blick auf
diejenigen, die ausgetreten sind, als auch auf diejenigen, die nicht
reingekommen sind. Zu spät? Nein, bestimmt nicht, denn es ist,
wie der Volksmund richtig sagt, nie zu spät, wenn auch selten
zu früh. Die Frage ist: Hätte es in der katholischen Kirche
überhaupt zu einem früheren Zeitpunkt eine Akzeptanz für
die Nutzung der Milieuerkenntnisse gegeben?
Welche Erkenntnisse kann Kirche aus solchen
Daten ziehen?
Die Sinus Studie zeigt auf, welche Milieus
unter den Kirchenmitgliedern, auch unter den Ehrenamtlern und sonstigen
Aktiven, besonders stark vertreten und welche unterrepräsentiert
sind. Das betrifft erst mal den Status Quo. Ich bin überzeugt,
dass manche dieser Erkenntnisse die Verantwortlichen in der katholischen
Kirche nicht wirklich überrascht, aber in ihrer Deutlichkeit
erschrocken gemacht haben.
Aus der Erfahrung mit der Umsetzung solcher
Erkenntnisse wissen wir, dass die verschiedenen Milieus nicht nur
unterschiedliche Werte und Lebensziele haben – und es hilft
sehr, diese, wenn auch nur ansatzweise, zu kennen und anzusprechen
– sondern auch unterschiedliche Kommunikations-wege und -vorlieben.
Die Affinität zu Internet ist ja
heute nicht mehr nur eine Frage des Alters, schon gar nicht des
Einkommens oder sonstiger soziodemographischer oder sozioökonomischer
Merkmale allein. Aber die Milieus differieren hier deutlich. Und
ich denke, die Frage, wie Personen, die nicht zur Kirche kommen,
trotzdem angesprochen werden können, ist auch und gerade für
eine Kirche, deren „Produkt“ die Botschaft ist, wichtig.
Auf Basis Ihrer Daten können Sie Ihren
Kunden auch sagen, wo welche milieuspezifische Zielgruppe wohnt,
und somit helfen, Werbung punktgenau zu platzieren. Sind solche
Daten der
geographischen Marktanalyse auch für Kirche nutzbar und sinnvoll?
Punktgenau – der Mathematiker sagt:
in Näherungswerten. Wir Microgeographen sind schon möglichst
genau, aber immerhin haben wir in Deutschland auch einen Datenschutz,
der personengenaue Aussagen durch Sammlung und Speicherung von personenbezogenen
Daten durch Dritte, die nicht in einer direkten Kundenbeziehung
mit diesen einzelnen Personen stehen, untersagt.
So können von uns alle Personen,
die in einem Haus, unter einer postalischen Adresse, leben, auch
nur mit der gleichen Information näherungsweise versehen werden
– jeder von uns weiß, welche unterschiedlichen Wertvorstellungen
und Lebensziele schon in einer Familie auftreten können. Und
mehr noch, beim Aufbau der anonymen microgeographischen Daten müssen
immer mindestens fünf Haushalte zusammengefasst werden, die
möglicherweise auch in verschiedenen Häusern leben.
Andererseits hat gerade die Sozialisierung
in der Familie und dem näheren Umfeld für viele von uns
maßgeblichen prägenden Einfluss. Und es gilt in Deutschland,
wieder mehr denn je, die Devise: „Gleich und gleich gesellt
sich gern.“ Also sogenannte Wohnumfeldinformationen sind sehr
wichtig. Und dieses alles erleichtert nicht nur die genaue Verortung
der Milieus sehr, sondern trägt auch zu hoher Treffergenauigkeit
bei.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Die Sinus
Studie liegt ja noch nicht so lange vor. Trotzdem sind erste Erfahrungen
sehr positiv. Wenn die Einladungen für bestimmte Veranstaltungen
der katholischen Kirche plötzlich sehr viel mehr Erfolg zeigen,
nachdem im Wesentlichen die Angehörigen von bestimmten Milieus
angesprochen worden sind, wenn sich erste Erfolge bei der Zielgruppen
genauen Positionierung von Angeboten einstellen, dann lässt
das noch weit mehr erhoffen.
Für eine genaue Response- und Wirksamkeitsanalyse
ist es wohl noch etwas zu früh, aber ich bin sicher, dass wir
in ein, zwei Jahren nachprüfbare Ergebnisse haben werden, die
den Wert dieser Daten und die Nachhaltigkeit der Vorgehensweise
und darauf basierender Aktionen beweisen werden.
Ihre Fachleute beraten Kunden auch bei Text
und Gestaltung von Mailings, damit diese, wie Sie sagen, „den
Nerv“ der Zielgruppen treffen. Sind Mailings und das Abstimmen
der milieuspezifischen Ästhetik auf die jeweilige Zielgruppe
auch etwas für die Kirche?
Auf jeden Fall ja. Von Herrn Dr. Becker-Huberti
habe ich den Bibel-Beleg erfahren: „Den Griechen Grieche und
den Römern Römer zu sein“. Das ist doch –
auch für die christliche Botschaft – natürlich genau
das Eingehen auf die Sprache, aber auch auf die Kultur der Gesellschaft,
auf das, was einzelnen Gruppen der jeweiligen Gesellschaft wichtig
ist.
Und gibt es nicht in der langen Geschichte
der katholischen Kirche genug Beispiele von Personen, die mit ihrer
Botschaft und genau mit ihrer Ansprache ihre Zuhörer auch erreicht
haben – so lange sie wussten, zu wem sie predigten.
Mailings, im Sinne von Werbebriefen, stellen
doch nur eine spezielle Art der Kommunikationsmittel dar. Ein Medium,
das, allgemein gesprochen, eine ausgewählte Gruppe von Menschen
auf ein spezielles „Produkt“ hinweist. Ein gutes Mailing
verdeutlicht dem Empfänger erst mal, dass er zu dieser ausgewählten
Gruppe dazu gehört. Wichtig ist darüber hinaus, dass es
zum richtigen Zeitpunkt ankommt – am besten, wenn beim Empfänger
ein gewisser Bedarf besteht. Und es muss den Empfänger ansprechen
– also in seiner Ästhetik, in Form und Stil. Letztendlich
muss das Produkt natürlich einen Nutzen, einen Vorteil versprechen.
Von politischen Parteien, von Sport-,
Kultur- und anderen Vereinen werde ich – oft unabhängig
von der Mitgliedschaft und über die allgemeinen, meist periodischen
Mitgliederbriefe hinausgehend – auf viele gesonderte Veranstaltungen
hingewiesen und persönlich eingeladen.
Wer hofft, die Menschen mit unpersönlichen,
allgemeinen Hinweisen an Orten, an denen sie diese Hinweise meist
gar nicht wahrnehmen, für etwas, vielleicht auch noch Neues,
gewinnen zu können, irrt. Ob meine Haltung gerechtfertigt sein
mag oder nicht, ist nicht die Frage. Es gilt zu konstatieren, dass
sie besteht und dass ich nur so „erreichbar“ bin. Warum
sollte gerade die Kirche mich nicht dort abholen, wo ich gerade
stehe?
Was meinen Sie: Ist Kirche heute noch für
alle da?
Ketzerisch zurück gefragt: War die
Kirche jemals für wirklich alle da? Ich meine nicht in ihrem
theologischen Anspruch, sondern in ihrer realen Arbeit, in ihrer
„Politik“ und in der Wahrnehmung der Menschen. Werden
nicht immer dann, wenn die Kirche für eine zum Beispiel benachteiligte
Bevölkerungsgruppe eintreten und Stellung beziehen will und
muss, andere Gruppen angeprangert oder gar ausgegrenzt?
Vielleicht sollten wir uns auf den gemeinsamen
Nenner verständigen, dass die Kirche, wie früher, auch
heute und in Zukunft den Anspruch nicht aufgeben sollte, für
alle offen zu sein, für alle bereit zu stehen, für alle
ein Angebot zu suchen – auch wenn sie es heute noch nicht
hat.
Wir sind doch im 21. Jahrhundert, zumindest
hier in Mitteleuropa, so individualisiert, dass auch die Kirche
akzeptieren sollte, ob und wann der Einzelne dieses Angebot annimmt.
Geschieht das zu selten, ist es folgerichtig, dass sich die Kirche
fragt, ob das Marketing – also Art, Zeitpunkt, Präsentationsform
des Angebotes – immer und überall das richtige ist.
Oder ob nicht doch differenzierter auf
die unterschiedlichen Zielgruppen und die unterschiedlichen Bedürfnisse
eingegangen werden sollte und muss. Dass Kindergottesdienst nicht
im Seniorenheim stattfindet, wissen wir alle, aber es wird ein „standardisierter“
Gottesdienst für meist heterogen zusammengesetzte Gemeinden
angeboten.
Kann Kirche heute als „Großanbieter“,
der für alle ein standardisiertes Angebot hat, noch im Wettbewerb
um Aufmerksamkeit bestehen? Oder müssen nicht auch die Angebote
selbst exakt auf die jeweilige Zielgruppe zugeschnitten sein?
Kennen Sie aus dem institutionellen oder
gewerblichen Bereich einen anderen Großanbieter, der für
alle ein Angebot hat und langfristig erfolgreich
ist? Jede Firma bietet eine Produktpalette an, wie zum Beispiel
Autos von klein bis groß, von sparsam bis sportlich, vom Cabrio
bis zum Kombi. Alles sind aber Autos, die dem einzigen (Auto-Enthusiasten
mögen mir verzeihen) Zweck dienen, von A nach B zu gelangen.
Warum haben gerade die großen Verlage
die unterschiedlichsten Titel? Sie erreichen bestimmte Personen
anscheinend nur über viele Bilder und wenig Text, andere aber
über jede Menge Hintergrundinformationen. Ziel ist, zu informieren.
Ich bin überzeugt davon, dass der
Pfarrer in einer Gemeinde inmitten eines innerstädtischen sozialen
Brennpunktes die Gläubigen, mit ihren Problemen und Lebenszielen,
anders ansprechen und woanders abholen muss als der Kollege im Professorenviertel
der gleichen Stadt.
Die Milieubetrachtung ist hier nur eine
konsequente Weiterentwicklung. Denn zwischen Konservativen und Traditionsverwurzelten
auf der einen Seite und zum Beispiel Experimentalisten und Hedonisten
auf der anderen Seite gibt es nicht nur grundlegende Unterschiede
in der Art und dem Inhalt des zuzuschneidenden Angebotes, sondern
auch im Zugang zu diesen Milieus. Gerade Personen, die heute nicht
zur Kirche kommen – wenn ich sie erreichen will, muss ich
mich, konkret wie im übertragenen Sinne, zu ihnen hin begeben.
Wie erleben Sie kirchliche Auftritte in
Ihrem beruflichen und in Ihrem privaten Erlebnisraum: zielgruppenspezifisch
oder zielgruppenunspezifisch?
Beruflich erst seit sehr kurzer Zeit,
in der Folge der Sinus Studie. Und hier, wenn auch zwangsläufig
noch in geringerem Ausmaße, sehr positiv. Die ersten Aktionen,
und vor allem die Akteure, die mir bis heute in diesem Rahmen begegnet
sind, haben die Möglichkeiten, ja die Notwendigkeiten erkannt,
zielgruppenspezifisch vorgehen zu müssen, wenn mehr erreicht
werden soll als bisher. Ich bin manchmal erstaunt, auf welche Einsatzmöglichkeiten
die Partner vor Ort kommen, und welche Erfolge auch schon kurzfristig
erzielt worden sind.
Privat erlebe ich beide christlichen Kirchen
sehr unspezifisch, was Zielgruppen im Sinne von Milieus betrifft.
Soziodemographische Gruppen zu berücksichtigen ist gut und
richtig, Kindergottesdienste und Gottesdienste in Altenheime gibt
es, auch Angebote für Eltern und für Singles und so weiter.
Wo aber sind zum Beispiel die Angebote, die Botschaft der Kirche
vor dem naturwissenschaftlichen heutigen Erfahrungshintergrund zu
diskutieren und – mehr noch – nahegebracht zu bekommen?
Wie bewerten Sie diese Auftritte aus Ihrer
professionellen Sicht als Marktforscher?
Wirklich professionell, was diese eben
angesprochenen kirchlichen Mitarbeiter betrifft, die die Sinus Studie
verwenden und umsetzen. Es ist ihnen sehr zu wünschen, dass
sie mit ihrer Vorgehensweise Erfolg erzielen und möglichst
viele weitere kirchliche Akteure überzeugen können. Es
ist ebenfalls zu wünschen, dass Zielgruppenbetrachtungen auf
alle möglichen Einsatzfelder angewendet werden.
Aber professionelles Marketing kann nicht
von jetzt auf gleich kommen, vieles dabei ist trotz genauer Planung
und viel Erfahrung eben nicht exakt vorhersehbar, vieles sollte
auch ausgetestet werden.
Sehen Sie bei den großen Kirchen die
transparente Kommunikationslinie? Oder anders gefragt: Sollte es
sie bei der Kirche überhaupt geben?
Wenn ich jetzt behaupte, dass ich sie
nicht sehe, muss ich fairer Weise auch betonen, dass mir der Über-
und der fundierte Einblick in die heutigen kirchlichen Kommunikationswege
und -formen fehlt. Bei der Fülle der Kommunikationsangebote
der beiden Kirchen, ihren hierarchischen Gliederungen, die alle
– und auch manchmal widersprüchlich – präsent
sind, wäre meines Erachtens auch eine einzige Kommunikationslinie
fehl am Platze.
Und wenn wir fordern, auf unterschiedliche
Milieus, unterschiedliche Nachfragen und vor allem unterschiedliche
Anforderungen an die Kommunikation eingehen zu wollen, dann kann
dies meiner Meinung nach nicht mit einer zwanghaften Corporate Identity
geschehen, wie sie manchmal von großen Firmen vorgeschrieben
und durchgeführt wird.
Welche Erfahrung machen Sie mit Zielgruppentypologien
in der Wirtschaft? Und welche in der Kirche?
In der katholischen Kirche fangen wir
mit dem Sammeln von Erfahrungen ja erst an. Die Wirtschaft dagegen,
und hier vor allem die werbetreibende, arbeitet seit Jahrzehnten
damit, auch schon seit fast 30 Jahren mit den Sinus Milieus®,
die ein kontinuierlich angepasstes Bild der sich ständig ändernden
gesellschaftlichen Gruppen darstellen. Und wenn diese Arbeit nicht
– vor allem auch monetär nachvollziehbaren – Erfolg
gezeitigt hätte, würden wir heute nach anderen Kriterien
und Verfahren arbeiten.
Marketing bedeutet zum einen, Produkte
bekannt zu machen, ein positives, vorteilhaftes Image aufzubauen,
zum anderen aber auch, für den Kauf dieses Produktes, dieser
Dienstleistung, einer Mitgliedschaft oder Ähnlichem genau die
Personen anzusprechen, die dieses Produkt kaufen können und
wollen. Je genauer ich diese Zielgruppe kenne und treffe, umso höher
ist der Erfolg: Ich habe den Streuverlust der Werbung minimiert,
also Werbekosten gespart, möglichst keinen potenziellen Käufer
nicht angesprochen, also keinen sogenannten entgangenen Gewinn erzeugt,
möglichst keinen Nichtkäufer angesprochen, weil das zum
einen wieder unnötige Werbekosten erzeugt hätte, zum anderen
aber auch Unmut hervorrufen kann, Werbemüdigkeit, auch negative
Prägung für eine spätere Produktaffinität. Näherungsweise.
Sind Zielgruppentypologien eins zu eins
auf Kirche zu übertragen?
Aus der Sinus Studie erfahren wir, dass
eine ganze Reihe von Fragestellungen in der katholischen Kirche
mit den Milieukenntnissen angegangen werden kann: die Grundorientierung
der Kirchenmitglieder und Gläubigen, der Ehrenamtlichen lässt
sich mit Hilfe der Sinus Milieus gut segmentieren.
Wir erfahren, dass die Wünsche und
Forderungen an die katholische Kirche innerhalb der einzelnen Milieus
oft sehr ähnlich artikuliert worden sind, sich von den Aussagen
der anderen Milieus aber stärker unterschieden. Gerade diese
Homogenität innerhalb des Clusters, des Typs, und die Heterogenitäten,
also Unterschiede, in der Typenlandschaft ist ein – auch methodisch
gefordertes – Kennzeichen einer guten, brauchbaren Typologie.
Es geht hier meines Erachtens weniger
um die theoretische Frage, was eins zu eins übertragbar ist,
sondern um die Hilfestellung, wobei welche Milieuerkenntnisse wichtig
und hilfreich sind. Es werden sich auch immer Fragen ergeben, für
die die Typologie keine Antwort findet. Es werden andere Fragen
auftauchen, die sinnvoll beantwortet werden können, wenn Milieus
nochmals unterteilt werden, wie zum Beispiel die Frage nach der
Positionierung der katholischen Kirche in Deutschland, wo konservatives
und traditionsverwurzeltes Milieu in einen konservativen und erzkonservativen
Zweig unterteilt wurden.
Ohne die Milieus und die Zielgruppentypologien
abwerten zu wollen: Sehen wir sie doch einfach als eine Methodik,
als ein erfolgversprechendes Mittel, unterschiedliche Menschen zu
erreichen. Wenn die Erfolge – in umfangreicher Gesamtbetrachtungsweise
– eintreten, können diese Mittel nicht falsch gewesen
sein.
Wo sind die Grenzen und wo die Chancen solcher
Typologien?
Typologien sind generalisierte und damit
zwangsläufig grobe Unterteilungen der Gesellschaft. Bei bestimmten
Fragestellungen sind andere Klassifizierungen erforderlich, wie
die Frage nach dem Potenzial an Familien mit Kindern, wenn es um
Kindergottesdienst geht. Wird aber als nächstes die Frage gestellt:
“Wer schickt sein Kind denn zum Kindergottesdienst?“,
dann sind bei der Beantwortung die Milieus wieder sehr hilfreich,
weil dies eine Einstellungsfrage ist.
Nicht jedes Individuum verhält sich
– Gott sei Dank – immer milieu- oder gruppenkonform.
In bestimmten Punkten entscheiden wir doch alle mal so, mal anders,
keiner ist komplett berechenbar. Diese, manchmal auch situative
Individualität, lässt sich mit Milieutypologien schwer
abfangen – außer dass bestimmte Milieus mehr dazu neigen
– die Hedonisten zum Beispiel – und andere konservative
weniger.
Eine noch nicht angesprochene Chance der
Typologien ist zweifellos auch die folgende: Wir alle neigen doch
dazu, komplexe Strukturen mit einfachen Mustern zu vergleichen und
zu erkennen, zu erklären. Selbst in vielen Naturwissenschaften
ist das so – Regeln werden erkannt, aber sie haben Ausnahmen.
Genau hier liegt die große Bedeutung
von Typologien: Die komplexe Welt einfacher, klarer strukturiert,
mit einer leicht überschaubaren Anzahl von Gruppen erklären
können. Individuen mögen nur näherungsweise einem
Milieu zugeordnet werden können – in der Mehrheit der
Fälle stimmen die generellen analytischen Muster aber gut mit
dem realen Verhalten überein.
Ist es nicht ein Widerspruch, von postmoderner
Unübersichtlichkeit der Kultur zu sprechen und zugleich auf
starke Homogenisierungen zu setzen, wie sie Zielgruppentypologien
behaupten?
Für
mich persönlich überhaupt nicht. Erstens sehe ich nur
einen, und dazu noch geringen Teil der Kultur von postmoderner Unübersichtlichkeit
geprägt, die dann auch nur von wenigen Milieus verstanden,
geschätzt und angenommen wird.
Und zwar gerade denjenigen Milieus, für
die Sinus in den Milieubeschreibungen diese Postmodernität
als besondere Eigenschaft hervorhebt. Auf die Grenzen der starken
Homogenisierung der Milieus habe ich schon hingewiesen, aber ebenfalls
darauf, dass dieses gesellschaftsimmanente Muster vorhanden ist
und bei vielen, nicht nur Konsum-Entscheidungen beobachtet werden
kann.
Wir sind keine Lemminge – oder vielleicht
doch? – aber in jedem Bienenschwarm, im Vogelzug, im Verhalten
von Tierherden sind Muster zu erkennen, die – unabhängig
vom Verhalten des Individuums, für die gesamte Gruppe Muster
erkennen und in gewissem Maße auch vorhersagen lässt.
Gibt es so etwas wirklich: Die Trendschokolade,
die Trendseife, die Trendurlaubsreise für ganz bestimmte Zielgruppensegmente?
Können Sie uns Beispiele nennen?
Ich bin
kein Trendforscher in dem Sinne, was an Produkten gerade in ist
und was out. Und bei den Konsumgütern des kurzfristigen Bedarfs
wie Schokolade und Seife werden die meist ebenso kurzfristigen Trends
auch oft mehr durch manipulative Werbung erzeugt als durch eine
Marktforschung und Zielgruppenbestimmung und anschließender
Ansprache genau dieser Zielgruppe.
Bei den Urlaubsreisen beispielsweise kann
man diese Trends bei bestimmten Zielgruppen feststellen: Bildungsreisen
werden milieuspezifisch sehr unterschiedlich durchgeführt;
im Moment sind gewisse Kreuzfahrten sehr in Mode bei Konservativen,
Etablierten und Postmateriellen. Wobei auch die Ziele milieuspezifisch
differieren.
Auch Einstellungen wie die „Geiz
ist Geil“-Mentalität sind Trends, aber auch diese Trends
sind nicht in allen Milieus gleich stark verankert, denn bei Konservativen,
Etablierten, Postmateriellen stehen noch andere Werte wie Qualität
und Markentreue im Vordergrund.
Sollte es auch Trendangebote der Kirche
geben?
Die christliche Botschaft der Kirche
wird in ihrem Kern sicherlich nicht von Trends beeinflusst werden.
Aber warum nicht die Art und Weise, wie die Botschaft dargebracht
werden kann? Wurde nicht immer schon zeitgemäße Musik
in der Kirche eingesetzt? Einer der Pfarrer, der mich als Jugendlichen
am stärksten angesprochen hat, hat zeitnahe „Aufhänger“
in seinen Predigten verwendet, um die Gläubigen von ihren Alltagsgedanken,
vielleicht auch -sorgen abzuholen. Er hätte mit Sicherheit
die „Geiz ist Geil“-Mentalität als Ausgangspunkt
benutzt, um dann als Alternative vielleicht die göttliche Gnade
zu predigen.
Welche Schritte der Kundenbeziehung und
der Kundenbindung gibt es?
Wenn Sie
als Unternehmen ihre privaten Kunden betrachten gibt es Hauptphasen
einer Kundenbeziehung.
Die erste Phase ist die der Neukundengewinnung.
In dieser Phase ist die Person, der Haushalt noch kein Kunde. Aber
das Unternehmen hat erkannt, dass hier ein potenzieller Kunde existiert,
der für Produkte oder Dienstleistungen eigentlich affin sein
müsste, bei dem eine werbliche Ansprache sich am ehesten als
Erfolg versprechend darstellt. In diese Gewinnung von Neukunden
wird oft sehr viel investiert, es ist auch betriebswirtschaftlich
wichtig, immer eine genügende Anzahl neuer Kunden zu akquirieren.
Nebenbei – es ist nicht minder wichtig, abschätzen zu
können, dass der potenzielle künftige Kunde die von ihm
gekauften Produkte und in Anspruch genommenen Leistungen auch bezahlen
kann und wird.
Welche Phase folgt dann?
Dann folgt
die Phase der Kundenbindung und Kundenbestandspflege. Zwischen dem
Unternehmen und der Person oder dem Haushalt besteht eine aktive,
rezente oder kurz zurückliegende Kundenbeziehung. Wenn ich
also immer oder regelmäßig in dem selben Geschäft
meine Lebensmittel kaufe, eine Zeitung abonniert habe, Kunde bei
einer – und meist auch nur einer – Bank bin, derzeit
ein Auto einer bestimmten Marke fahre, ist dem Unternehmen daran
gelegen, dass ich weiter in dem Geschäft einkaufe, das Abonnement
weiter behalte, bei der Bank weiter meine Konten behalte, das nächste
Fahrzeug wieder beim gleichen Händler und von der gleichen
Marke kaufe.
Neben diesem Bemühen, den Kunden
als solchen zu halten, gehören hierzu auch die sogenannten
Kundenwertsteigerungen, Up-Selling und Cross-Selling. Up-Selling
bedeutet, dass ich mehr Lebensmittel in dem Geschäft kaufen
soll, bei der Bank mit meiner Kreditkarte mehr Käufe tätigen
soll. Cross-Selling heißt, neben Giro-Konto, Kreditkarte und
vielleicht Sparkonto auch andere Bankleistungen wie Verbraucherkredit,
Wertpapiere und Anlagen bei genau dieser Bank zu tätigen, beim
Autohändler auch die Reifen zu kaufen und den Werkstattdienst
in Anspruch zu nehmen.
Schaut die Wirtschaft auch auf das Ende?
Aber natürlich,
dass ist die dritte Phase – die Phase der Beendigung einer
Kundenbeziehung. Ich gehe nicht mehr in das Lebensmittelgeschäft,
sondern in ein anderes. Ich kündige mein Abo, das Konto und
wechsle die Bank, ich kaufe mir als Neuwagen ein Fahrzeug einer
anderen Marke bei einem anderen Händler.
Die Beendigung dieser Kundenbeziehung
ist eine oft lang überlegte, manchmal revidierbare Momententscheidung,
und es gibt ein Davor – noch während der bestehenden
Kundenbeziehung – und ein Danach. Das Davor bedeutet für
das Unternehmen, den Kündigungswilligen oder -gefährdeten
möglichst zu erkennen und Gegenmaßnahmen einzuleiten:
Kündigerprävention also.
Das Erkennen ist nicht immer leicht, bei
der Zeitung jedoch kurz vor Auslaufen des Abos oder vor dem Kündigungstermin.
Bei Banken bei Serviceverschlechterungen, Zinsverteuerungen etc.
Beim Auto, wenn man zum Beispiel weiß, in welchen Zeitspannen
der Kunde gewöhnlich sein Fahrzeug wechselt. Der richtige Zeitpunkt
mit einem guten Angebot ist hier wichtig.
Dann gibt es die Phase nach der erfolgten
Beendigung einer Kundenbeziehung. Im Sinne von Qualitätssteigerung
und -sicherung, aber auch schon im Sinne von Kündigerrückgewinnung
sind die Unternehmen gut beraten, die Kunden, soweit sie ihnen mit
Namen und Adresse bekannt sind wie bei Zeitung, Bank und Autohaus,
sich nach ihren Kündigungsgründen zu erkundigen.
Liegen diese Gründe in mangelhaften
Service-Leistungen des Unternehmens, besteht hier die Chance, solche
Mängel überhaupt zu erkennen und zu verändern. Bei
Tageszeitungs-Abonnements liegen hier, im Zusammenspiel mit der
Analyse früherer Rückgewinnungsaktionen, gute Chancen
für Kündigerrückgewinnungen.
Auch die Bank und das Autohaus gewinnen
hier, in der Art einer Marktforschung, wertvolle Erkenntnisse –
nicht aus den Antworten des Einzelnen, aber aus den Mustern der
Antworten, die sich analytisch oft leicht bestimmen lassen. Selbst
dann, wenn zum Beispiel ein Autotyp durch einen neuen Konkurrenztyp
„den Rang abgelaufen bekommt“. Und diese Marktforschung
ist – gut strukturiert – oft billiger und erfolgreicher
als groß angelegte Studien.
Immer im Hintergrund schwebt jedoch auch
die Bewertung, ob dieser Kunde ein ertragreicher Kunde war, wieviel
Umsatz er gebracht hat, wieviel Beschwerden oder Reklamationen er
verursacht hat, kurz, ob man ihn überhaupt wiedergewinnen will.
Sind solche Schritte auf Kirche übertragbar?
Davon bin ich fest überzeugt,
denn wenn die Kirche ihre Kunden, die Mitglieder betrachtet, so
kann sie doch die gleichen Phasen ausmachen. Zum Bespiel die Phase
der Neukundengewinnung. Wie viele der katholischen Kirche und vor
allem dem christlichen Glauben nahestehende, also „affine“,
Menschen gibt es, die – noch – nicht Mitglied sind?
Vielleicht lässt sich diese Frage
in Kürze, auch kleinräumig, mal mit genaueren Schätzzahlen
beantworten. Generell ist die Existenz dieser Gruppe, aus der heraus
ja auch durchaus Neu- und auch Wiedereintritte zu erkennen sind,
nicht zu leugnen. Milieubasierte Potenzialbestimmung, die Ausweisung
dieser speziellen Zielgruppe auch kleinräumig und eine gezielte
Ansprache mit den Methoden eines modernen Marketings, gerne auch
als Werbung bezeichnet, sollte auch für die Kirche mehr Erfolg
erzielen lassen als das unspezifische Werben mit der Gießkanne
und das Hoffen darauf, dass die Schäflein schon kommen oder
wiederkommen werden.
Oder die Phase der Kundenbindung. Tut
die Kirche alles ihr Mögliche, ihre Mitglieder zu halten, ihre
Botschaft noch besser und zielgerichteter verkünden zu können?
Hat sie in ihrem großen Portfolio nicht genug weitere Angebote,
die sie aber noch nicht zielgruppengenau kommuniziert hat? Von denen
manche Gläubige noch gar nichts wissen? Werden gerade die Ehrenamtlichen
im Sinne einer für beide Seiten freudvollen und gewinnbringenden
Beziehung betreut? Was wird ihnen, in Sinne von Cross-Selling, mehr
geboten?
Und bei der nicht zu vernachlässigenden
Anzahl der Kirchenaustritte: Was wird zur Kündigerprävention,
zur Verhinderung der Austritte, unternommen? Was zur Rückgewinnung?
Ich habe in meinem Bekanntenkreis sogar Verärgerung darüber
vernommen, dass von Seiten der katholischen Kirche keinerlei Reaktion
auf den Kirchenaustritt erfolgt ist, dass Ausgetretene nicht nach
ihren Gründen gefragt worden sind, geschweige denn, dass wieder
um sie geworben wurde.
Sehen Sie beim Thema der Zielgruppenspezifikation
Potenziale für kirchliche Kommunikation?
Ich sehe große Potenziale. In der
Sinus Studie sind, gesondert für jedes Milieu, die Wünsche
und Forderungen an die katholische Kirche aufgelistet, manche davon
gelten sogar für mehrere Milieus. Gleich der zweite Punkt des
ersten beschriebenen Milieus, der Etablierten, fordert mehr Gegenwartsbezug
in den Predigten, auch Predigten oder Reden von rhetorisch geschulten
Laien. Ist doch für die Kirche nichts Neues, aber wie oft wird
diese Chance genutzt, wie oft wird diese Forderung, dieser Wunsch
erfüllt?
Oder bei den kirchlichen Zeitungen: Wie
gut kennen sie ihre Abonnenten, was tun sie, um neue Milieus zu
erschließen, vielleicht durch neue, alternative Titel? Wie
intensiv und wie zielgruppenspezifisch werden die Medien beworben?
Oder: Welche Informationen haben die Kirchen
über ihre Mitglieder, die nicht genutzt werden? Warum wird
erst im hohen Alter zum Geburtstag gratuliert, nicht schon früher?
Ich würde vor allem den 60. und 65. Geburtstag nutzen, um wegen
des bevorstehenden Eintritts ins Rentner- oder Pensionärsdasein
für eine ehrenamtliche Mitarbeit bei kirchlichen Einrichtungen
zu werben.
Oder die zielgruppenspezifische
Begrüßung von Zugezogenen durch Personen, die der gleichen
Zielgruppe angehören oder nahestehen. Es müssen und brauchen
nicht immer die Pfarrer zu sein.
Wenn Sie ran dürften als verantwortlicher
"Mann der Kirche": Welche zielgruppenspezifischen Angebote
würden Sie bestimmten Zielgruppen gerne machen?
Wollen Sie mich aufs Glatteis führen
oder abwerben? Aber im Ernst, die ersten und Erfolg versprechenden
Antworten sehe ich in den Wünschen und Forderungen an die katholische
Kirche aus den einzelnen Milieus heraus. Gerade und vor allem aus
den Milieus, die heute der Kirche weniger nahe stehen als andere
Gruppen. Deren Fragen und Bedürfnisse sollten sehr ernst genommen
werden.
Generell: Den jeweiligen Lebenssituationen,
Lebensstilen und Wertvorstellungen der Milieus gemäß
Angebote zu entwickeln und Ansprachen zu finden, um die Menschen
dort abzuholen, wo sie sich befinden, und für die Kirche als
Mitglieder zu gewinnen und zu behalten und mehr noch, als ehrenamtliche
Mithelfer und Mitgestalter zu begeistern und als Multiplikatoren
zu nutzen.
Sind Sie in der Kirche?
Ja, ich bin Mitglied der evangelischen
Kirche, erzogen in einem bäuerlichen, jedoch sehr liberalen
Elternhaus in einer Landgemeinde, zugehörig der Evangelischen
Landeskirche zu Hessen und Nassau, der damals mal so genannten Niemöller-Landeskirche.
Später auch geprägt durch mathematisch-naturwissenschaftliche
Schule und Studium. Versehen mit – manchmal auch behindert
von – einem analytischen Denken, mit dem sich nicht auf alle
Fragen Antworten finden lassen, das aber bei vielen weiter hilft.
Das Wichtigste am Christentum war mir
immer der soziale Gedanke; die zentrale Stelle in der Bibel ist
für mich die Bergpredigt. Kirchgänger bin ich eher selten.
Mir sind leider wenige Pfarrer begegnet, die mich angesprochen haben,
die mich als Laien zu einer entsprechenden Auseinandersetzung mit
der theologischen Lehre herausgefordert haben.
Glauben Sie?
Vor dem gerade geschilderten Hintergrund:
Vieles nicht. Zum Beispiel fällt es jetzt in der Osterzeit
schwer, ein Verständnis zu finden für die Auferstehung
Christi, die jeder naturwissenschaftlichen Erkenntnis widerspricht.
Antworten der Kirche, wie aktuell die von Kardinal Wetter, überzeugen
mich nicht. Es ist mir noch nicht gelungen, in diesem Vorgang zum
Beispiel eine Parabel zu sehen, die mir etwas anderes, Glaubhaftes
und Glaubwürdiges mitteilen will. Aber vielleicht habe ich
mich auch noch nicht genug darum bemüht!
Zu welcher Zielgruppe der Kirche würden
Sie sich zählen?
Zu den Zweiflern, die sich am ehesten
durch schlüssige Argumente überzeugen lassen. Die aber
auch Hochachtung vor Menschen haben, die sich zu ihrem Glauben bekennen,
die diesen glaubwürdig vertreten und ihn leben. Die ganzheitlich
einen Umgang mit dem Anderen pflegen, der von gegenseitigem Respekt
geprägt ist.
Wie möchten Sie am liebsten von Ihrer
Kirche angesprochen werden?
Mit solchen Angeboten oder Anstößen
zur Auseinandersetzung in theologischen Fragen. Mit mehr Informationen
über andere Religionen, das Trennende und das Gemeinsame, den
Möglichkeiten, Chancen und Risiken im Globalisierungsprozess.
Mit mehr Diskussionen über die christlichen Kirchen in anderen
Regionen der Welt, in anderen Gesellschaften und bei anderen Ethnien.
Zum Beispiel in Südamerika, zum Beispiel über kirchliche
Leistungen in der Entwicklungszusammenarbeit. Mit mehr und vorurteilsfreiem
Austausch über kirchliche Entwicklungen und Sonderwege, wie
etwa der Kirche von unten oder der Theologie der Befreiung.
Auf jeden Fall möchte ich persönlich
oder zumindest milieuspezifisch angesprochen werden. Wenn eine Verbindlichkeit
für beide Seiten geschaffen wird, hat das für die Kirche
auch den großen Vorteil, dass der Angesprochene dann nicht
mehr so leicht „kneifen“ kann.
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