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Im Interview:
Walter Erlenbach, Diplom-Geograph, Geschäftsführer
Foto: photocase.com
 

 

 
   

 

Walter Erlenbach hat Geographie, Mathematik sowie Wasserwirtschaft und Ethnologie studiert. Statistische Verfahren und ihre Anwendungen
waren Schwerpunkte seines Studiums. 1993 wurde er microm-Mitarbeiter, seit Anfang 2003 ist er einer von zwei Geschäftsführern des auf Zielgruppen- und Geomarketing spezialisierten Neusser Unternehmens.
 
   

Foto: Daniel Bürger

Typologien sind generalisierte und damit zwangsläufig grobe Unterteilungen der Gesellschaft.

 
   

 

  Kirche und Marktforschung

Interview mit Walter Erlenbach

Walter Erlenbach ist Geschäftsführer der microm Micromarketing-Systeme und Consult GmbH. Er ist zuständig für den Bereich räumliche und inhaltliche Datenerstellung, Methodik sowie projekt- und kundenbezogene Anwendung. Während in der Wirtschaft große Unternehmen seit Jahrzehnten mit Zielgruppentypologien arbeiten, “fangen wir”, so Erlenbach, “in der Katholischen Kirche mit dem Sammeln von Erfahrungen ja erst an.”

 

Als Geschäftsführer von microm bieten Sie Ihren Kunden detaillierte Informationen über Zielgruppen, deren Ansichten, Einstellungen und Grundorientierungen. Wie kommt ein Unternehmen wie das Ihre zu solchen Informationen?

Microm kommt aus der Microgeographie. Wir aggregieren kleinräumig und dem Datenschutz genügend anonymisierte, nicht personenbezogene Daten aus unterschiedlichen Quellen, wie z.B. unserer Muttergesellschaft Creditreform und vielen anderen, zu verschiedenen Wohnumfeldinformationen. Unser Slogan „Wir kennen jedes Haus“ mag in Einzelfällen nicht immer ganz richtig sein, trifft aber ansonsten unseren flächendeckenden Daten- und damit Analyseanspruch.

Marktforschung im eigentlichen Sinne wird bei Sinus Sociovision betrieben. Jahr für Jahr werden inzwischen über 33.000 Personen befragt, nach Einstellungen, Lebensstilen und -zielen, nach Werten und natürlich auch nach Konsumgewohnheiten. Ergebnis sind die Sinus Milieus®, die führende Zielgruppentypologie in Deutschland. In insgesamt 10 Milieus werden jeweils Menschen zusammengefasst, die sich in Lebensweise und Lebensauffassung ähneln, das heißt verwandte Wertprioritäten, soziale Lagen und Lebensstile haben.

Ihr Unternehmen arbeitet eng mit Sinus Sociovision zusammen...

microm und Sinus Sociovision verbinden seit 1998 erfolgreich ihre beiden unterschiedlichen Schwerpunkte und Ergebnisse. Beide Unternehmen kannten durch ihre internationalen Partner und Kunden die – vor allem in den angelsächsischen Ländern – seit vielen Jahren übliche Verzahnung von Marktforschung und Microgeographie.

Wir waren und sind von deren Sinn sowie wirtschaftlichem Mehrwert überzeugt. Und das schon zu einem Zeitpunkt, an dem sich die – methodisch sehr fundierte und höchst professionell arbeitende – deutsche Marktforschung noch vor einer Zusammenarbeit mit der Microgeographie scheute, die zugegebenermaßen zu diesem frühen Zeitpunkt auch noch nicht die Datenfülle und -tiefe hatte wie heute.

Sinus Sociovision und microm haben in Deutschland als Erste diesen Schritt der Zusammenarbeit getan, und bis heute nicht bereut. Ergebnis sind die MOSAIC Milieus®, eine lizenzierte Adaption der Sinus Milieus®, die flächendeckend für ganz Deutschland und inzwischen auch Österreich und Schweiz vorliegen. Aber, um uns nicht mit falschen Federn zu schmücken: Die Marktforscher sitzen bei Sinus Sociovision in Heidelberg

Die katholische Kirche nutzt erst seit kurzem solche Informationen auch für ihre Arbeit. Ist es nicht viel zu spät dafür?

Die Studie von Sinus Sociovision über „Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus® 2005“, das so genannte Milieuhandbuch, ist doch überhaupt mal ein Ansatz, die Probleme, die die katholische Kirche mit immer weniger werdenden Mitgliedern, Gläubigen, hat, aus dem Blickwinkel der Soziologie zu betrachten.

Die Verknüpfung von Theologie und Soziologie fällt vielen Verantwortlichen in der katholischen Kirche bestimmt nicht leicht. Ich halte es jedoch für erfolgversprechend, und zwar für unterschiedliche Fragestellungen, wenn die vorhandenen Kenntnisse über die Strukturierung unserer Gesellschaft auch unter einem anderen Blickwinkel als nur dem theologischen betrachtet werden.

Spät ist es, sowohl mit Blick auf diejenigen, die ausgetreten sind, als auch auf diejenigen, die nicht reingekommen sind. Zu spät? Nein, bestimmt nicht, denn es ist, wie der Volksmund richtig sagt, nie zu spät, wenn auch selten zu früh. Die Frage ist: Hätte es in der katholischen Kirche überhaupt zu einem früheren Zeitpunkt eine Akzeptanz für die Nutzung der Milieuerkenntnisse gegeben?

Welche Erkenntnisse kann Kirche aus solchen Daten ziehen?

Die Sinus Studie zeigt auf, welche Milieus unter den Kirchenmitgliedern, auch unter den Ehrenamtlern und sonstigen Aktiven, besonders stark vertreten und welche unterrepräsentiert sind. Das betrifft erst mal den Status Quo. Ich bin überzeugt, dass manche dieser Erkenntnisse die Verantwortlichen in der katholischen Kirche nicht wirklich überrascht, aber in ihrer Deutlichkeit erschrocken gemacht haben.

Aus der Erfahrung mit der Umsetzung solcher Erkenntnisse wissen wir, dass die verschiedenen Milieus nicht nur unterschiedliche Werte und Lebensziele haben – und es hilft sehr, diese, wenn auch nur ansatzweise, zu kennen und anzusprechen – sondern auch unterschiedliche Kommunikations-wege und -vorlieben.

Die Affinität zu Internet ist ja heute nicht mehr nur eine Frage des Alters, schon gar nicht des Einkommens oder sonstiger soziodemographischer oder sozioökonomischer Merkmale allein. Aber die Milieus differieren hier deutlich. Und ich denke, die Frage, wie Personen, die nicht zur Kirche kommen, trotzdem angesprochen werden können, ist auch und gerade für eine Kirche, deren „Produkt“ die Botschaft ist, wichtig.

Auf Basis Ihrer Daten können Sie Ihren Kunden auch sagen, wo welche milieuspezifische Zielgruppe wohnt, und somit helfen, Werbung punktgenau zu platzieren. Sind solche Daten der
geographischen Marktanalyse auch für Kirche nutzbar und sinnvoll?

Punktgenau – der Mathematiker sagt: in Näherungswerten. Wir Microgeographen sind schon möglichst genau, aber immerhin haben wir in Deutschland auch einen Datenschutz, der personengenaue Aussagen durch Sammlung und Speicherung von personenbezogenen Daten durch Dritte, die nicht in einer direkten Kundenbeziehung mit diesen einzelnen Personen stehen, untersagt.

So können von uns alle Personen, die in einem Haus, unter einer postalischen Adresse, leben, auch nur mit der gleichen Information näherungsweise versehen werden – jeder von uns weiß, welche unterschiedlichen Wertvorstellungen und Lebensziele schon in einer Familie auftreten können. Und mehr noch, beim Aufbau der anonymen microgeographischen Daten müssen immer mindestens fünf Haushalte zusammengefasst werden, die möglicherweise auch in verschiedenen Häusern leben.

Andererseits hat gerade die Sozialisierung in der Familie und dem näheren Umfeld für viele von uns maßgeblichen prägenden Einfluss. Und es gilt in Deutschland, wieder mehr denn je, die Devise: „Gleich und gleich gesellt sich gern.“ Also sogenannte Wohnumfeldinformationen sind sehr wichtig. Und dieses alles erleichtert nicht nur die genaue Verortung der Milieus sehr, sondern trägt auch zu hoher Treffergenauigkeit bei.

Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Die Sinus Studie liegt ja noch nicht so lange vor. Trotzdem sind erste Erfahrungen sehr positiv. Wenn die Einladungen für bestimmte Veranstaltungen der katholischen Kirche plötzlich sehr viel mehr Erfolg zeigen, nachdem im Wesentlichen die Angehörigen von bestimmten Milieus angesprochen worden sind, wenn sich erste Erfolge bei der Zielgruppen genauen Positionierung von Angeboten einstellen, dann lässt das noch weit mehr erhoffen.

Für eine genaue Response- und Wirksamkeitsanalyse ist es wohl noch etwas zu früh, aber ich bin sicher, dass wir in ein, zwei Jahren nachprüfbare Ergebnisse haben werden, die den Wert dieser Daten und die Nachhaltigkeit der Vorgehensweise und darauf basierender Aktionen beweisen werden.

Ihre Fachleute beraten Kunden auch bei Text und Gestaltung von Mailings, damit diese, wie Sie sagen, „den Nerv“ der Zielgruppen treffen. Sind Mailings und das Abstimmen der milieuspezifischen Ästhetik auf die jeweilige Zielgruppe auch etwas für die Kirche?

Auf jeden Fall ja. Von Herrn Dr. Becker-Huberti habe ich den Bibel-Beleg erfahren: „Den Griechen Grieche und den Römern Römer zu sein“. Das ist doch – auch für die christliche Botschaft – natürlich genau das Eingehen auf die Sprache, aber auch auf die Kultur der Gesellschaft, auf das, was einzelnen Gruppen der jeweiligen Gesellschaft wichtig ist.

Und gibt es nicht in der langen Geschichte der katholischen Kirche genug Beispiele von Personen, die mit ihrer Botschaft und genau mit ihrer Ansprache ihre Zuhörer auch erreicht haben – so lange sie wussten, zu wem sie predigten.

Mailings, im Sinne von Werbebriefen, stellen doch nur eine spezielle Art der Kommunikationsmittel dar. Ein Medium, das, allgemein gesprochen, eine ausgewählte Gruppe von Menschen auf ein spezielles „Produkt“ hinweist. Ein gutes Mailing verdeutlicht dem Empfänger erst mal, dass er zu dieser ausgewählten Gruppe dazu gehört. Wichtig ist darüber hinaus, dass es zum richtigen Zeitpunkt ankommt – am besten, wenn beim Empfänger ein gewisser Bedarf besteht. Und es muss den Empfänger ansprechen – also in seiner Ästhetik, in Form und Stil. Letztendlich muss das Produkt natürlich einen Nutzen, einen Vorteil versprechen.

Von politischen Parteien, von Sport-, Kultur- und anderen Vereinen werde ich – oft unabhängig von der Mitgliedschaft und über die allgemeinen, meist periodischen Mitgliederbriefe hinausgehend – auf viele gesonderte Veranstaltungen hingewiesen und persönlich eingeladen.

Wer hofft, die Menschen mit unpersönlichen, allgemeinen Hinweisen an Orten, an denen sie diese Hinweise meist gar nicht wahrnehmen, für etwas, vielleicht auch noch Neues, gewinnen zu können, irrt. Ob meine Haltung gerechtfertigt sein mag oder nicht, ist nicht die Frage. Es gilt zu konstatieren, dass sie besteht und dass ich nur so „erreichbar“ bin. Warum sollte gerade die Kirche mich nicht dort abholen, wo ich gerade stehe?

Was meinen Sie: Ist Kirche heute noch für alle da?

Ketzerisch zurück gefragt: War die Kirche jemals für wirklich alle da? Ich meine nicht in ihrem theologischen Anspruch, sondern in ihrer realen Arbeit, in ihrer „Politik“ und in der Wahrnehmung der Menschen. Werden nicht immer dann, wenn die Kirche für eine zum Beispiel benachteiligte Bevölkerungsgruppe eintreten und Stellung beziehen will und muss, andere Gruppen angeprangert oder gar ausgegrenzt?

Vielleicht sollten wir uns auf den gemeinsamen Nenner verständigen, dass die Kirche, wie früher, auch heute und in Zukunft den Anspruch nicht aufgeben sollte, für alle offen zu sein, für alle bereit zu stehen, für alle ein Angebot zu suchen – auch wenn sie es heute noch nicht hat.

Wir sind doch im 21. Jahrhundert, zumindest hier in Mitteleuropa, so individualisiert, dass auch die Kirche akzeptieren sollte, ob und wann der Einzelne dieses Angebot annimmt. Geschieht das zu selten, ist es folgerichtig, dass sich die Kirche fragt, ob das Marketing – also Art, Zeitpunkt, Präsentationsform des Angebotes – immer und überall das richtige ist.

Oder ob nicht doch differenzierter auf die unterschiedlichen Zielgruppen und die unterschiedlichen Bedürfnisse eingegangen werden sollte und muss. Dass Kindergottesdienst nicht im Seniorenheim stattfindet, wissen wir alle, aber es wird ein „standardisierter“ Gottesdienst für meist heterogen zusammengesetzte Gemeinden angeboten.

Kann Kirche heute als „Großanbieter“, der für alle ein standardisiertes Angebot hat, noch im Wettbewerb um Aufmerksamkeit bestehen? Oder müssen nicht auch die Angebote selbst exakt auf die jeweilige Zielgruppe zugeschnitten sein?

Kennen Sie aus dem institutionellen oder gewerblichen Bereich einen anderen Großanbieter, der für alle ein Angebot hat und langfristig erfolgreich ist? Jede Firma bietet eine Produktpalette an, wie zum Beispiel Autos von klein bis groß, von sparsam bis sportlich, vom Cabrio bis zum Kombi. Alles sind aber Autos, die dem einzigen (Auto-Enthusiasten mögen mir verzeihen) Zweck dienen, von A nach B zu gelangen.

Warum haben gerade die großen Verlage die unterschiedlichsten Titel? Sie erreichen bestimmte Personen anscheinend nur über viele Bilder und wenig Text, andere aber über jede Menge Hintergrundinformationen. Ziel ist, zu informieren.

Ich bin überzeugt davon, dass der Pfarrer in einer Gemeinde inmitten eines innerstädtischen sozialen Brennpunktes die Gläubigen, mit ihren Problemen und Lebenszielen, anders ansprechen und woanders abholen muss als der Kollege im Professorenviertel der gleichen Stadt.

Die Milieubetrachtung ist hier nur eine konsequente Weiterentwicklung. Denn zwischen Konservativen und Traditionsverwurzelten auf der einen Seite und zum Beispiel Experimentalisten und Hedonisten auf der anderen Seite gibt es nicht nur grundlegende Unterschiede in der Art und dem Inhalt des zuzuschneidenden Angebotes, sondern auch im Zugang zu diesen Milieus. Gerade Personen, die heute nicht zur Kirche kommen – wenn ich sie erreichen will, muss ich mich, konkret wie im übertragenen Sinne, zu ihnen hin begeben.

Wie erleben Sie kirchliche Auftritte in Ihrem beruflichen und in Ihrem privaten Erlebnisraum: zielgruppenspezifisch oder zielgruppenunspezifisch?

Beruflich erst seit sehr kurzer Zeit, in der Folge der Sinus Studie. Und hier, wenn auch zwangsläufig noch in geringerem Ausmaße, sehr positiv. Die ersten Aktionen, und vor allem die Akteure, die mir bis heute in diesem Rahmen begegnet sind, haben die Möglichkeiten, ja die Notwendigkeiten erkannt, zielgruppenspezifisch vorgehen zu müssen, wenn mehr erreicht werden soll als bisher. Ich bin manchmal erstaunt, auf welche Einsatzmöglichkeiten die Partner vor Ort kommen, und welche Erfolge auch schon kurzfristig erzielt worden sind.

Privat erlebe ich beide christlichen Kirchen sehr unspezifisch, was Zielgruppen im Sinne von Milieus betrifft. Soziodemographische Gruppen zu berücksichtigen ist gut und richtig, Kindergottesdienste und Gottesdienste in Altenheime gibt es, auch Angebote für Eltern und für Singles und so weiter. Wo aber sind zum Beispiel die Angebote, die Botschaft der Kirche vor dem naturwissenschaftlichen heutigen Erfahrungshintergrund zu diskutieren und – mehr noch – nahegebracht zu bekommen?

Wie bewerten Sie diese Auftritte aus Ihrer professionellen Sicht als Marktforscher?

Wirklich professionell, was diese eben angesprochenen kirchlichen Mitarbeiter betrifft, die die Sinus Studie verwenden und umsetzen. Es ist ihnen sehr zu wünschen, dass sie mit ihrer Vorgehensweise Erfolg erzielen und möglichst viele weitere kirchliche Akteure überzeugen können. Es ist ebenfalls zu wünschen, dass Zielgruppenbetrachtungen auf alle möglichen Einsatzfelder angewendet werden.

Aber professionelles Marketing kann nicht von jetzt auf gleich kommen, vieles dabei ist trotz genauer Planung und viel Erfahrung eben nicht exakt vorhersehbar, vieles sollte auch ausgetestet werden.

Sehen Sie bei den großen Kirchen die transparente Kommunikationslinie? Oder anders gefragt: Sollte es sie bei der Kirche überhaupt geben?

Wenn ich jetzt behaupte, dass ich sie nicht sehe, muss ich fairer Weise auch betonen, dass mir der Über- und der fundierte Einblick in die heutigen kirchlichen Kommunikationswege und -formen fehlt. Bei der Fülle der Kommunikationsangebote der beiden Kirchen, ihren hierarchischen Gliederungen, die alle – und auch manchmal widersprüchlich – präsent sind, wäre meines Erachtens auch eine einzige Kommunikationslinie fehl am Platze.

Und wenn wir fordern, auf unterschiedliche Milieus, unterschiedliche Nachfragen und vor allem unterschiedliche Anforderungen an die Kommunikation eingehen zu wollen, dann kann dies meiner Meinung nach nicht mit einer zwanghaften Corporate Identity geschehen, wie sie manchmal von großen Firmen vorgeschrieben und durchgeführt wird.

Welche Erfahrung machen Sie mit Zielgruppentypologien in der Wirtschaft? Und welche in der Kirche?

In der katholischen Kirche fangen wir mit dem Sammeln von Erfahrungen ja erst an. Die Wirtschaft dagegen, und hier vor allem die werbetreibende, arbeitet seit Jahrzehnten damit, auch schon seit fast 30 Jahren mit den Sinus Milieus®, die ein kontinuierlich angepasstes Bild der sich ständig ändernden gesellschaftlichen Gruppen darstellen. Und wenn diese Arbeit nicht – vor allem auch monetär nachvollziehbaren – Erfolg gezeitigt hätte, würden wir heute nach anderen Kriterien und Verfahren arbeiten.

Marketing bedeutet zum einen, Produkte bekannt zu machen, ein positives, vorteilhaftes Image aufzubauen, zum anderen aber auch, für den Kauf dieses Produktes, dieser Dienstleistung, einer Mitgliedschaft oder Ähnlichem genau die Personen anzusprechen, die dieses Produkt kaufen können und wollen. Je genauer ich diese Zielgruppe kenne und treffe, umso höher ist der Erfolg: Ich habe den Streuverlust der Werbung minimiert, also Werbekosten gespart, möglichst keinen potenziellen Käufer nicht angesprochen, also keinen sogenannten entgangenen Gewinn erzeugt, möglichst keinen Nichtkäufer angesprochen, weil das zum einen wieder unnötige Werbekosten erzeugt hätte, zum anderen aber auch Unmut hervorrufen kann, Werbemüdigkeit, auch negative Prägung für eine spätere Produktaffinität. Näherungsweise.

Sind Zielgruppentypologien eins zu eins auf Kirche zu übertragen?

Aus der Sinus Studie erfahren wir, dass eine ganze Reihe von Fragestellungen in der katholischen Kirche mit den Milieukenntnissen angegangen werden kann: die Grundorientierung der Kirchenmitglieder und Gläubigen, der Ehrenamtlichen lässt sich mit Hilfe der Sinus Milieus gut segmentieren.

Wir erfahren, dass die Wünsche und Forderungen an die katholische Kirche innerhalb der einzelnen Milieus oft sehr ähnlich artikuliert worden sind, sich von den Aussagen der anderen Milieus aber stärker unterschieden. Gerade diese Homogenität innerhalb des Clusters, des Typs, und die Heterogenitäten, also Unterschiede, in der Typenlandschaft ist ein – auch methodisch gefordertes – Kennzeichen einer guten, brauchbaren Typologie.

Es geht hier meines Erachtens weniger um die theoretische Frage, was eins zu eins übertragbar ist, sondern um die Hilfestellung, wobei welche Milieuerkenntnisse wichtig und hilfreich sind. Es werden sich auch immer Fragen ergeben, für die die Typologie keine Antwort findet. Es werden andere Fragen auftauchen, die sinnvoll beantwortet werden können, wenn Milieus nochmals unterteilt werden, wie zum Beispiel die Frage nach der Positionierung der katholischen Kirche in Deutschland, wo konservatives und traditionsverwurzeltes Milieu in einen konservativen und erzkonservativen Zweig unterteilt wurden.

Ohne die Milieus und die Zielgruppentypologien abwerten zu wollen: Sehen wir sie doch einfach als eine Methodik, als ein erfolgversprechendes Mittel, unterschiedliche Menschen zu erreichen. Wenn die Erfolge – in umfangreicher Gesamtbetrachtungsweise – eintreten, können diese Mittel nicht falsch gewesen sein.

Wo sind die Grenzen und wo die Chancen solcher Typologien?

Typologien sind generalisierte und damit zwangsläufig grobe Unterteilungen der Gesellschaft. Bei bestimmten Fragestellungen sind andere Klassifizierungen erforderlich, wie die Frage nach dem Potenzial an Familien mit Kindern, wenn es um Kindergottesdienst geht. Wird aber als nächstes die Frage gestellt: “Wer schickt sein Kind denn zum Kindergottesdienst?“, dann sind bei der Beantwortung die Milieus wieder sehr hilfreich, weil dies eine Einstellungsfrage ist.

Nicht jedes Individuum verhält sich – Gott sei Dank – immer milieu- oder gruppenkonform. In bestimmten Punkten entscheiden wir doch alle mal so, mal anders, keiner ist komplett berechenbar. Diese, manchmal auch situative Individualität, lässt sich mit Milieutypologien schwer abfangen – außer dass bestimmte Milieus mehr dazu neigen – die Hedonisten zum Beispiel – und andere konservative weniger.

Eine noch nicht angesprochene Chance der Typologien ist zweifellos auch die folgende: Wir alle neigen doch dazu, komplexe Strukturen mit einfachen Mustern zu vergleichen und zu erkennen, zu erklären. Selbst in vielen Naturwissenschaften ist das so – Regeln werden erkannt, aber sie haben Ausnahmen.

Genau hier liegt die große Bedeutung von Typologien: Die komplexe Welt einfacher, klarer strukturiert, mit einer leicht überschaubaren Anzahl von Gruppen erklären können. Individuen mögen nur näherungsweise einem Milieu zugeordnet werden können – in der Mehrheit der Fälle stimmen die generellen analytischen Muster aber gut mit dem realen Verhalten überein.

Ist es nicht ein Widerspruch, von postmoderner Unübersichtlichkeit der Kultur zu sprechen und zugleich auf starke Homogenisierungen zu setzen, wie sie Zielgruppentypologien behaupten?

Für mich persönlich überhaupt nicht. Erstens sehe ich nur einen, und dazu noch geringen Teil der Kultur von postmoderner Unübersichtlichkeit geprägt, die dann auch nur von wenigen Milieus verstanden, geschätzt und angenommen wird.

Und zwar gerade denjenigen Milieus, für die Sinus in den Milieubeschreibungen diese Postmodernität als besondere Eigenschaft hervorhebt. Auf die Grenzen der starken Homogenisierung der Milieus habe ich schon hingewiesen, aber ebenfalls darauf, dass dieses gesellschaftsimmanente Muster vorhanden ist und bei vielen, nicht nur Konsum-Entscheidungen beobachtet werden kann.

Wir sind keine Lemminge – oder vielleicht doch? – aber in jedem Bienenschwarm, im Vogelzug, im Verhalten von Tierherden sind Muster zu erkennen, die – unabhängig vom Verhalten des Individuums, für die gesamte Gruppe Muster erkennen und in gewissem Maße auch vorhersagen lässt.

Gibt es so etwas wirklich: Die Trendschokolade, die Trendseife, die Trendurlaubsreise für ganz bestimmte Zielgruppensegmente? Können Sie uns Beispiele nennen?

Ich bin kein Trendforscher in dem Sinne, was an Produkten gerade in ist und was out. Und bei den Konsumgütern des kurzfristigen Bedarfs wie Schokolade und Seife werden die meist ebenso kurzfristigen Trends auch oft mehr durch manipulative Werbung erzeugt als durch eine Marktforschung und Zielgruppenbestimmung und anschließender Ansprache genau dieser Zielgruppe.

Bei den Urlaubsreisen beispielsweise kann man diese Trends bei bestimmten Zielgruppen feststellen: Bildungsreisen werden milieuspezifisch sehr unterschiedlich durchgeführt; im Moment sind gewisse Kreuzfahrten sehr in Mode bei Konservativen, Etablierten und Postmateriellen. Wobei auch die Ziele milieuspezifisch differieren.

Auch Einstellungen wie die „Geiz ist Geil“-Mentalität sind Trends, aber auch diese Trends sind nicht in allen Milieus gleich stark verankert, denn bei Konservativen, Etablierten, Postmateriellen stehen noch andere Werte wie Qualität und Markentreue im Vordergrund.

Sollte es auch Trendangebote der Kirche geben?

Die christliche Botschaft der Kirche wird in ihrem Kern sicherlich nicht von Trends beeinflusst werden. Aber warum nicht die Art und Weise, wie die Botschaft dargebracht werden kann? Wurde nicht immer schon zeitgemäße Musik in der Kirche eingesetzt? Einer der Pfarrer, der mich als Jugendlichen am stärksten angesprochen hat, hat zeitnahe „Aufhänger“ in seinen Predigten verwendet, um die Gläubigen von ihren Alltagsgedanken, vielleicht auch -sorgen abzuholen. Er hätte mit Sicherheit die „Geiz ist Geil“-Mentalität als Ausgangspunkt benutzt, um dann als Alternative vielleicht die göttliche Gnade zu predigen.

Welche Schritte der Kundenbeziehung und der Kundenbindung gibt es?

Wenn Sie als Unternehmen ihre privaten Kunden betrachten gibt es Hauptphasen einer Kundenbeziehung.

Die erste Phase ist die der Neukundengewinnung. In dieser Phase ist die Person, der Haushalt noch kein Kunde. Aber das Unternehmen hat erkannt, dass hier ein potenzieller Kunde existiert, der für Produkte oder Dienstleistungen eigentlich affin sein müsste, bei dem eine werbliche Ansprache sich am ehesten als Erfolg versprechend darstellt. In diese Gewinnung von Neukunden wird oft sehr viel investiert, es ist auch betriebswirtschaftlich wichtig, immer eine genügende Anzahl neuer Kunden zu akquirieren. Nebenbei – es ist nicht minder wichtig, abschätzen zu können, dass der potenzielle künftige Kunde die von ihm gekauften Produkte und in Anspruch genommenen Leistungen auch bezahlen kann und wird.

Welche Phase folgt dann?

Dann folgt die Phase der Kundenbindung und Kundenbestandspflege. Zwischen dem Unternehmen und der Person oder dem Haushalt besteht eine aktive, rezente oder kurz zurückliegende Kundenbeziehung. Wenn ich also immer oder regelmäßig in dem selben Geschäft meine Lebensmittel kaufe, eine Zeitung abonniert habe, Kunde bei einer – und meist auch nur einer – Bank bin, derzeit ein Auto einer bestimmten Marke fahre, ist dem Unternehmen daran gelegen, dass ich weiter in dem Geschäft einkaufe, das Abonnement weiter behalte, bei der Bank weiter meine Konten behalte, das nächste Fahrzeug wieder beim gleichen Händler und von der gleichen Marke kaufe.

Neben diesem Bemühen, den Kunden als solchen zu halten, gehören hierzu auch die sogenannten Kundenwertsteigerungen, Up-Selling und Cross-Selling. Up-Selling bedeutet, dass ich mehr Lebensmittel in dem Geschäft kaufen soll, bei der Bank mit meiner Kreditkarte mehr Käufe tätigen soll. Cross-Selling heißt, neben Giro-Konto, Kreditkarte und vielleicht Sparkonto auch andere Bankleistungen wie Verbraucherkredit, Wertpapiere und Anlagen bei genau dieser Bank zu tätigen, beim Autohändler auch die Reifen zu kaufen und den Werkstattdienst in Anspruch zu nehmen.

Schaut die Wirtschaft auch auf das Ende?

Aber natürlich, dass ist die dritte Phase – die Phase der Beendigung einer Kundenbeziehung. Ich gehe nicht mehr in das Lebensmittelgeschäft, sondern in ein anderes. Ich kündige mein Abo, das Konto und wechsle die Bank, ich kaufe mir als Neuwagen ein Fahrzeug einer anderen Marke bei einem anderen Händler.

Die Beendigung dieser Kundenbeziehung ist eine oft lang überlegte, manchmal revidierbare Momententscheidung, und es gibt ein Davor – noch während der bestehenden Kundenbeziehung – und ein Danach. Das Davor bedeutet für das Unternehmen, den Kündigungswilligen oder -gefährdeten möglichst zu erkennen und Gegenmaßnahmen einzuleiten: Kündigerprävention also.

Das Erkennen ist nicht immer leicht, bei der Zeitung jedoch kurz vor Auslaufen des Abos oder vor dem Kündigungstermin. Bei Banken bei Serviceverschlechterungen, Zinsverteuerungen etc. Beim Auto, wenn man zum Beispiel weiß, in welchen Zeitspannen der Kunde gewöhnlich sein Fahrzeug wechselt. Der richtige Zeitpunkt mit einem guten Angebot ist hier wichtig.

Dann gibt es die Phase nach der erfolgten Beendigung einer Kundenbeziehung. Im Sinne von Qualitätssteigerung und -sicherung, aber auch schon im Sinne von Kündigerrückgewinnung sind die Unternehmen gut beraten, die Kunden, soweit sie ihnen mit Namen und Adresse bekannt sind wie bei Zeitung, Bank und Autohaus, sich nach ihren Kündigungsgründen zu erkundigen.

Liegen diese Gründe in mangelhaften Service-Leistungen des Unternehmens, besteht hier die Chance, solche Mängel überhaupt zu erkennen und zu verändern. Bei Tageszeitungs-Abonnements liegen hier, im Zusammenspiel mit der Analyse früherer Rückgewinnungsaktionen, gute Chancen für Kündigerrückgewinnungen.

Auch die Bank und das Autohaus gewinnen hier, in der Art einer Marktforschung, wertvolle Erkenntnisse – nicht aus den Antworten des Einzelnen, aber aus den Mustern der Antworten, die sich analytisch oft leicht bestimmen lassen. Selbst dann, wenn zum Beispiel ein Autotyp durch einen neuen Konkurrenztyp „den Rang abgelaufen bekommt“. Und diese Marktforschung ist – gut strukturiert – oft billiger und erfolgreicher als groß angelegte Studien.

Immer im Hintergrund schwebt jedoch auch die Bewertung, ob dieser Kunde ein ertragreicher Kunde war, wieviel Umsatz er gebracht hat, wieviel Beschwerden oder Reklamationen er verursacht hat, kurz, ob man ihn überhaupt wiedergewinnen will.

Sind solche Schritte auf Kirche übertragbar?

Davon bin ich fest überzeugt, denn wenn die Kirche ihre Kunden, die Mitglieder betrachtet, so kann sie doch die gleichen Phasen ausmachen. Zum Bespiel die Phase der Neukundengewinnung. Wie viele der katholischen Kirche und vor allem dem christlichen Glauben nahestehende, also „affine“, Menschen gibt es, die – noch – nicht Mitglied sind?

Vielleicht lässt sich diese Frage in Kürze, auch kleinräumig, mal mit genaueren Schätzzahlen beantworten. Generell ist die Existenz dieser Gruppe, aus der heraus ja auch durchaus Neu- und auch Wiedereintritte zu erkennen sind, nicht zu leugnen. Milieubasierte Potenzialbestimmung, die Ausweisung dieser speziellen Zielgruppe auch kleinräumig und eine gezielte Ansprache mit den Methoden eines modernen Marketings, gerne auch als Werbung bezeichnet, sollte auch für die Kirche mehr Erfolg erzielen lassen als das unspezifische Werben mit der Gießkanne und das Hoffen darauf, dass die Schäflein schon kommen oder wiederkommen werden.

Oder die Phase der Kundenbindung. Tut die Kirche alles ihr Mögliche, ihre Mitglieder zu halten, ihre Botschaft noch besser und zielgerichteter verkünden zu können? Hat sie in ihrem großen Portfolio nicht genug weitere Angebote, die sie aber noch nicht zielgruppengenau kommuniziert hat? Von denen manche Gläubige noch gar nichts wissen? Werden gerade die Ehrenamtlichen im Sinne einer für beide Seiten freudvollen und gewinnbringenden Beziehung betreut? Was wird ihnen, in Sinne von Cross-Selling, mehr geboten?

Und bei der nicht zu vernachlässigenden Anzahl der Kirchenaustritte: Was wird zur Kündigerprävention, zur Verhinderung der Austritte, unternommen? Was zur Rückgewinnung? Ich habe in meinem Bekanntenkreis sogar Verärgerung darüber vernommen, dass von Seiten der katholischen Kirche keinerlei Reaktion auf den Kirchenaustritt erfolgt ist, dass Ausgetretene nicht nach ihren Gründen gefragt worden sind, geschweige denn, dass wieder um sie geworben wurde.

Sehen Sie beim Thema der Zielgruppenspezifikation Potenziale für kirchliche Kommunikation?

Ich sehe große Potenziale. In der Sinus Studie sind, gesondert für jedes Milieu, die Wünsche und Forderungen an die katholische Kirche aufgelistet, manche davon gelten sogar für mehrere Milieus. Gleich der zweite Punkt des ersten beschriebenen Milieus, der Etablierten, fordert mehr Gegenwartsbezug in den Predigten, auch Predigten oder Reden von rhetorisch geschulten Laien. Ist doch für die Kirche nichts Neues, aber wie oft wird diese Chance genutzt, wie oft wird diese Forderung, dieser Wunsch erfüllt?

Oder bei den kirchlichen Zeitungen: Wie gut kennen sie ihre Abonnenten, was tun sie, um neue Milieus zu erschließen, vielleicht durch neue, alternative Titel? Wie intensiv und wie zielgruppenspezifisch werden die Medien beworben?

Oder: Welche Informationen haben die Kirchen über ihre Mitglieder, die nicht genutzt werden? Warum wird erst im hohen Alter zum Geburtstag gratuliert, nicht schon früher? Ich würde vor allem den 60. und 65. Geburtstag nutzen, um wegen des bevorstehenden Eintritts ins Rentner- oder Pensionärsdasein für eine ehrenamtliche Mitarbeit bei kirchlichen Einrichtungen zu werben.

Oder die zielgruppenspezifische Begrüßung von Zugezogenen durch Personen, die der gleichen Zielgruppe angehören oder nahestehen. Es müssen und brauchen nicht immer die Pfarrer zu sein.

Wenn Sie ran dürften als verantwortlicher "Mann der Kirche": Welche zielgruppenspezifischen Angebote würden Sie bestimmten Zielgruppen gerne machen?

Wollen Sie mich aufs Glatteis führen oder abwerben? Aber im Ernst, die ersten und Erfolg versprechenden Antworten sehe ich in den Wünschen und Forderungen an die katholische Kirche aus den einzelnen Milieus heraus. Gerade und vor allem aus den Milieus, die heute der Kirche weniger nahe stehen als andere Gruppen. Deren Fragen und Bedürfnisse sollten sehr ernst genommen werden.

Generell: Den jeweiligen Lebenssituationen, Lebensstilen und Wertvorstellungen der Milieus gemäß Angebote zu entwickeln und Ansprachen zu finden, um die Menschen dort abzuholen, wo sie sich befinden, und für die Kirche als Mitglieder zu gewinnen und zu behalten und mehr noch, als ehrenamtliche Mithelfer und Mitgestalter zu begeistern und als Multiplikatoren zu nutzen.

Sind Sie in der Kirche?

Ja, ich bin Mitglied der evangelischen Kirche, erzogen in einem bäuerlichen, jedoch sehr liberalen Elternhaus in einer Landgemeinde, zugehörig der Evangelischen Landeskirche zu Hessen und Nassau, der damals mal so genannten Niemöller-Landeskirche. Später auch geprägt durch mathematisch-naturwissenschaftliche Schule und Studium. Versehen mit – manchmal auch behindert von – einem analytischen Denken, mit dem sich nicht auf alle Fragen Antworten finden lassen, das aber bei vielen weiter hilft.

Das Wichtigste am Christentum war mir immer der soziale Gedanke; die zentrale Stelle in der Bibel ist für mich die Bergpredigt. Kirchgänger bin ich eher selten. Mir sind leider wenige Pfarrer begegnet, die mich angesprochen haben, die mich als Laien zu einer entsprechenden Auseinandersetzung mit der theologischen Lehre herausgefordert haben.

Glauben Sie?

Vor dem gerade geschilderten Hintergrund: Vieles nicht. Zum Beispiel fällt es jetzt in der Osterzeit schwer, ein Verständnis zu finden für die Auferstehung Christi, die jeder naturwissenschaftlichen Erkenntnis widerspricht. Antworten der Kirche, wie aktuell die von Kardinal Wetter, überzeugen mich nicht. Es ist mir noch nicht gelungen, in diesem Vorgang zum Beispiel eine Parabel zu sehen, die mir etwas anderes, Glaubhaftes und Glaubwürdiges mitteilen will. Aber vielleicht habe ich mich auch noch nicht genug darum bemüht!

Zu welcher Zielgruppe der Kirche würden Sie sich zählen?

Zu den Zweiflern, die sich am ehesten durch schlüssige Argumente überzeugen lassen. Die aber auch Hochachtung vor Menschen haben, die sich zu ihrem Glauben bekennen, die diesen glaubwürdig vertreten und ihn leben. Die ganzheitlich einen Umgang mit dem Anderen pflegen, der von gegenseitigem Respekt geprägt ist.

Wie möchten Sie am liebsten von Ihrer Kirche angesprochen werden?

Mit solchen Angeboten oder Anstößen zur Auseinandersetzung in theologischen Fragen. Mit mehr Informationen über andere Religionen, das Trennende und das Gemeinsame, den Möglichkeiten, Chancen und Risiken im Globalisierungsprozess. Mit mehr Diskussionen über die christlichen Kirchen in anderen Regionen der Welt, in anderen Gesellschaften und bei anderen Ethnien. Zum Beispiel in Südamerika, zum Beispiel über kirchliche Leistungen in der Entwicklungszusammenarbeit. Mit mehr und vorurteilsfreiem Austausch über kirchliche Entwicklungen und Sonderwege, wie etwa der Kirche von unten oder der Theologie der Befreiung.

Auf jeden Fall möchte ich persönlich oder zumindest milieuspezifisch angesprochen werden. Wenn eine Verbindlichkeit für beide Seiten geschaffen wird, hat das für die Kirche auch den großen Vorteil, dass der Angesprochene dann nicht mehr so leicht „kneifen“ kann.

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