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Titelstory von:
Dr. Christian Schröder

Foto: © Sensay/photocase

 

 

 
   

 

Dr. Christian Schröder, Jahrgang 1983, ist promovierter Theologe und arbeitet als Pastoralreferent im Bistum Aachen mit Schwerpunk­ten in der City- und Jugendpastoral. Unter anderem ist er dort Leiter der Jugendkirche "kafarna:um".

Erst kürzlich veröffentlichte er einen Artikel zum Thema "storytelling" mit Schwer­punkt auf die Praxis­erfahrungen aus der pastoralen Arbeit: www.euangel.de

 
   

 

 

 

 

 

 

spannend/langweilig: Storytelling im Netz

Digitale Epiphanie

Storytelling ist kein Trend. Geschichten erzählen ist die vielleicht älteste Kulturtechnik der Menschheit und beginnt schon mit steinzeitlichen Höhlenmalereien. Und doch erfährt der Begriff in den letzten Jahren einen Hype. Das liegt vor allem daran, dass sich unsere Kommunika­tions­möglichkeiten durch das Internet massiv erweitert haben. Aber gerade die jüngsten Entwicklungen im Netz haben dazu geführt, dass Storytelling als Schlüsselkompetenz nicht nur für digitale Kommuni­kation in Zeiten gesunkener Aufmerksamkeitsspannen verstanden wird.

Der einfache Facebook-Post, noch vor wenigen Jahren der Standard der Netzkommunikation, ist längst überholt worden von Erzählformaten in Echtzeit. Neben dem vereinfachten Live-Streaming jeder beliebigen Situation gehören dazu vor allem die Story-Funktionen auf Snapchat und Instagram, den beiden wichtigsten mobile-only-Netzwerken, die insbesondere bei jüngeren Usern beliebt sind. In den Stories kompo­nieren die User Fotos, Videos, Texte und Emoticons zu virtuosen Ein­blicken in ihr Leben. Aus einzelnen Momenten kreieren sie eine narra­tive Struktur, die unter Umständen dieselbe Funktion erfüllt, wie die Antwort auf die alte Pärchenfrage: „Wie war dein Tag?“. Sie kura­tieren, welche persönlichen Erlebnisse sie ihren Followern mitteilen möchten und damit eben nicht nur, wie sie von anderen gesehen wer­den wollen, sondern auch wie sie sich selbst sehen.

Das ist eine bedeutsame Weiterentwicklung der Social Media-Nutzung, denn anders als bei den „Erwachsenen“-Netzwerken wie facebook oder twitter, steht bei Instagram und Snapchat nicht der Diskurs im Mittel­punkt. Kommentare sind nur begrenzt möglich und erwünscht. Es geht nicht um Informationsaustausch, sondern um Identität. Diese Verände­rung bezieht sich meinem Eindruck nach nicht nur auf digitale Kommu­nikation, sondern ist Ausdruck eines veränderten Kommunikations­ver­haltens in der Gesellschaft. Trotz der Debatte über Fake news: Nie waren Informationen so leicht und so umfassend zugänglich wie heute. Das führt aber eben auch zu einem Informationsoverkill. Wer sich einmal durch Querverweise von einem Wikipedia-Artikel zum nächsten und übernächsten durchgeklickt hat versteht, was ein Übermaß an Fakten auslöst: Das Gefühl in Information zu ertrinken. Das Erzählen von Geschichten bietet einen Ausweg aus diesem Dilemma: Es schafft emotionale Verbindung zu den transportierten Informationen. Durch eine Geschichte können die darin enthalten Informationen für mich eine Bedeutung bekommen. Auch deswegen können wir uns Inhalte besser merken, wenn sie mit Beispielgeschichten verknüpft sind. In beson­de­ren Fällen führen Geschichten sogar dazu, dass ich mein Leben ändere oder meine Ansichten ändere. Bin ich der Erzählende und transportiere meine Botschaft durch eine Geschichte, mache ich mich verletzlich. Ich zeige etwas von mir persönlich, z.B. wie mein Alltag aussieht, welche Musik ich mag, mit welchen Menschen ich unterwegs bin.


Fundamentalproblem Glaubenskommunikation

Dieses intensivierte Storytelling der digitalen Generation ist besonders interessant für alle, die sich mit Glaubenskommunikation befassen. Die Frage, wie überhaupt heute über Glauben, Spiritualität und Religion gesprochen werden kann, gehört zu den größten Herausforderungen für Theologie und Kirche. In der Zeit nach der Volkskirche funktionieren die tradierten Formate nicht mehr. Für den Großteil der Gesellschaft bewir­ken offenbar weder die aufklärerisch-pädagogische Vermittlung von Glaubensinhalten noch die traditionelle Verkündigung durch Predigt und Katechismus heute noch eine persönliche Identifikation als Christ*in. Bei der Suche nach zukünftigen Kommunikationswegen des Evange­liums macht ein Blick in die Kirchengeschichte Mut: Narrative Formate haben eine lange Tradition. Das fängt mit der Sprache Jesu an, der – wenn man nicht gerade bestimmte Teile des Johannesevangeliums als Maßstab nimmt – doch eine sehr gleichnis- und symbolhafte Sprache gepflegt zu haben scheint. Beispiele aus den folgenden 2000 Jahren finden sich viele. Heiligenviten des Frühmittelalters, illustrierte Kir­chenfenster, jesuitische Mysterienspiele oder die Sternsingeraktion haben gemeinsam, dass sie Glaubensüberzeugungen in Form von Geschichten erzählen – und zwar in jeweils zeitgemäßen technischen Formaten. Ihnen gemeinsam ist auch, dass sie über Glauben so spre­chen, dass sie Identifikation ermöglichen, aber nicht erzwingen. Ge­schichten sagen nicht: „Es ist genau so und nicht anders“. Eher: „So habe ich es erlebt“. Dadurch kann der Zuhörende, selbst wenn er völlig andere Überzeugungen hat, überhaupt erst einen Zugang zu meiner Sicht der Dinge finden.


Paul Ricoeur und narrative Identität

Wie können solche sinnstiftenden Erzählungen heute aussehen? Wie funktionieren sie eigentlich? Beim Verständnis hilft zum Beispiel Paul Ricoeur mit seinem Konzept der narrativen Identität. Der französische Philosoph interessierte sich dafür, wie Menschen eine für sie überzeu­gende Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ erhalten. Dies geschieht nach seiner Beobachtung dadurch, dass sie ihre eigene Lebensge­schichte erzählen oder zumindest als erzählbar verstehen. Die Fakten und Rahmenbedingungen ihres Lebens sind objektiv betrachtet einfach nur „Vorkommnisse“, erst durch die Platzierung in einer Geschichte werden sie zu „Ereignissen“, weil wir ihnen durch das Arrangieren in einer Geschichte Sinn verleihen. Diesen Prozess nennt Ricoeur in An­lehnung an Aristoteles „Mimesis“, also Nachahmung. Genauer gesagt, sieht er sogar drei miteinander verbundene Nachahmungsprozesse. In der Mimesis 1 werden Ereignisse überhaupt als erzählenswert wahrge­nommen. Wir nehmen dabei wahr, dass die Abfolge von Ereignissen des Lebens nicht irrelevant ist, sondern Bedeutung hat. Das Leben schreit geradezu danach, erzählt zu werden. Die erste Mimesis liefert das Rohmaterial der Erzählungen: Ereignisse, Empfindungen, Situationen, Charaktere. Potentiell also alles, was ein jugendlicher Snapchatter heute etwa im Laufe eines Tages erlebt. Jeder Blick, jede Begegnung, jedes Essen, jeder lustige Spruch unter Freunden.

Die erzählerische Antwort auf diesen Kontext geschieht in der Mimesis 2. Mit dem Rohmaterial unserer Welt und Umwelt konfigurieren wir eine Geschichte, d.h. die Ereignisse und Figuren werden miteinander in einem Spannungsbogen verbunden. Dies kann planvoll geschehen oder zufällig. Die Snaps eines Tages, automatisch zur „Story“ arrangiert, sind der bewusste oder unbewusste Versuch, die erzählenswerten Ereignisse miteinander zu verbinden. Wann immer wir das tun, greifen wir natür­lich auf uns bekannte Geschichten zurück. Kein Evangelist hat seine Version der Frohen Botschaft ohne Rückgriff auf antike Genres geschrie­ben, und auch wir bedienen uns eifrig an Spannungsbögen, die wir selbst in Geschichten gehört haben. Aber selbst wenn auf tradierte For­mate zurückgegriffen wird (z.B. weil bestimmte Influencer das auch genau so machen), ist doch jede Geschichte ein Original, weil das Roh­material an Lebenserfahrungen individuell ist.

Eine Geschichte, die niemand liest, sieht oder hört, ist unvollständig. Narrative Identität bildet sich nur aus, wenn die Geschichte nicht allein der Selbstvergewisserung dient, sondern auch zur Interaktion führt. Das Lesen, Sehen oder Hören einer Geschichte vervollständigt sie, ver­ändert sie aber auch. Ricoeur nennt das Refiguration oder Mimesis 3. Niemand wird dauernd Snapchat-Stories bauen, wenn er keinerlei Kon­takte auf der Plattform hat, die seine Geschichten anschauen. Selbst wenn er im Normalfall keinerlei Reaktionen auf seine Story bekommt: Er sieht, dass sie gesehen wurde, sowie der Autor weiß, dass sein Buch verkauft und vermutlich auch gelesen wird.

Zur Identitätsbildung trägt dieser Prozess laut Ricoeur eben dann bei, wenn nicht irgendwelche beliebigen Bausteine zu einer Geschichte verknüpft werden, sondern die eigenen Erfahrungen und Erlebnisse.


Geschichten sind ein Versprechen

Was hilft Ricoeurs Konzept für die Suche nach zeitgemäßen Formen der Glaubenskommunikation? Mit Blick auf die Snapchat-Generation fällt mir als erstes ein: Geschichten sind nicht aufdringlich. Ob die Geschich­te gehört wird, hängt einzig und allein davon ab, ob sie gut ist. Ich kann noch so sehr von der Botschaft des Evangeliums überzeugt sein, wenn ich davon langweilig, moralisierend oder besserwisserisch erzähle, wird mir niemand zuhören. Das bedeutet nicht, dass man nichts „Unbeque­mes“ mehr sagen darf. Aber gerade Themen, die nicht so leicht verdau­lich sind, müssen besonders gut erzählt sein. Den Unheilspredigern aus „Das Leben des Brian“ hören wir genauso wenig zu wie dem langweili­gen Reverend Lovejoy aus den Simpsons. Geschichten sind einladend. Niemand ist gezwungen, ihre Aussagen zu übernehmen. Der einzige echte Grund, sich eine Geschichte erzählen zu lassen, ist das Verspre­chen, dass es sich lohnen wird.

Es bleibt die Frage: Wie erzählt man so, dass es sich lohnt, zuzuhören, wenn es um Glaubensthemen geht? Es gibt unfassbar viele Texte, Bü­cher und Videos, die Empfehlungen für gutes Storytelling geben. Eins der besten Stücke ist ein TED-Talk von Andrew Stanton, dem Autor vie­ler Animationsfilme wie zum Beispiel „Toy Story“, „Wall-e“ oder „Findet Nemo“. Der ganze Talk ist sehenwert, aber die Essenz sind drei Schlüs­sel zu einer guten Geschichte:

1. Make me care: Sei nicht langweilig, aber das wäre nur die Vernei­nung des Satzes. Wenn ich einer Geschichte zuhören soll, dann darf es mir nicht egal sein, wie sie ausgeht. Selbst wenn ich ahne, dass zuletzt Happy End oder Auferstehung auf mich warten: Der Weg dorthin darf nicht vorhersehbar sein.

2. Create wonder: Die Kraft einer Geschichte erwächst aus den Din­gen, die nicht erzählt werden. Nur wenn es offene Fragen, ungelöste Probleme gibt und mich der Fortgang der Handlung auch überraschen kann und zum Staunen bringt, kann diese Geschichte auch etwas in mir auslösen.

3. Use what you know: Wenn du eine Geschichte erzählst, dann greif auf eigene Erfahrungen zurück. Je mehr der Erzählende selbst die zen­trale Erfahrung kennt, um die es geht, desto überzeugender wird die Story. Ich kann andere am ehesten für die Dinge interessieren, die mir auch selbst nahe sind.

Trotz solcher Tipps: Storytelling ist keine Wissenschaft. Wäre das alles berechenbar, gäbe es keine Filme, die im Kino floppen, und keine Bü­cher, die zu Ladenhütern werden. Im Online-Kurs „The Art of Story­tell­ing“ empfehlen Mitarbeiter der Pixar Studios, was die Themen guter Geschichten sind: Einsichten, die du gewonnen hast, oder Dinge, die
du gelernt hast. Aufschlussreicher klingt das im englischen Original: „Mo­ments, where you had an epiphany“. Eine Epiphanie. Eine Gottes­begegnung.

 

Quellen:

• Simone Müller, Narratives Entdecken. Storytelling als Methode zur Identitätsbildung vor dem Hintergrund des christlichen Berufungs­begriffs, unveröffentl. Magisterarbeit, Freiburg 2017

• Paul Ricoeur, Zeit und Erzählung, 3 Bde., München 1988–1991

• Andrew Stanton, Der Schlüssel zu einer großartigen Geschichte:
TED-Talk

• Pixar ina box. The Art of Storytelling: Khan Academy

 

nach obeN

     
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