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  Startseite Ausgabe 08 | banal - erhaben – Warum wir Rituale brauchen.
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Text: Dr. Klaus M. Wackernagel  

Dr. Klaus M. Wackernagel, Jahrgang 1949, ist nieder-gelassener Psychoanalytiker, Gruppenanalytiker sowie Traumatherapeut in freier Praxis in Essen. Die Wurzeln der Familie sind teils deutsch, teils jüdisch. Er ist Dozent am Psychoanalytischen Institut in Düsseldorf. Schwerpunkte sind die Behandlung traumatisierter Patienten und schwerer Persönlichkeitsstörungen sowie die psychoanalytische Konzeptforschung.



 
   

 

 

 

„Welche Rolle spielen Rituale im jüdischen Leben?“

Für den religiösen, der Tradition verpflichteten Juden sind der Alltag ebenso wie der Shabbat und die Feiertage durchtränkt von rituellen Handlungen. Handlungen wie das Händewaschen, das Getränk, das Essen und vieles andere, vor allem freudige Erlebnisse des Alltags, sind von spezifischen Segenssprüchen, hebräisch ברכות  „berachot“ , jidd. „Bruches“, begleitet, in denen man Gott für seine Gebote (wörtlich: Befehle), מצוות „mitzwot“, jidd. „Mitzwes“, vor der Ausführung der Handlung dankt. Im Anschluss an die Ausführung folgt meist eine weitere Danksagung, die nach dem Trinken oder Essen recht lang werden kann und bei festlichen Gelegenheiten, wie beim Shabbatmahl in traditionellen Melodien gemeinsam gesungen wird. Die Gebote sind dabei diejenigen der Thora und der Ausführungsbestimmungen dazu in Mischna und Talmud.

Das ritualisierte Gebet, Frühgebet, Nachmittagsgebet und Abendgebet, alle möglichst in der Gemeinschaft eines Minjan, einer Zahl von mindestens zehn Männern, verrichtet, sind tägliche Pflicht, ergänzt um das kurze Nachtgebet. Alle Texte spiegeln den Dank für die religiösen Pflichten, die wir von Gott am Sinai angenommen haben, die Rettungstaten Gottes, und den früheren Opferdienst im Tempel und drücken die Fürsorge um die Schwachen der Gemeinde und das Gedenken an die Verstorbenen aus. Alle sind durchdrungen von der Trauer um den Verlust des Tempels und der Hoffnung auf die Rückkehr und Erlösung in einem von allen Völkern erkannten Gottesreich. Zum Frühgottesdienst trägt der Mann an gewöhnlichen Tagen die Gebetsriemen,  תפלין „tefillin“, und den Gebetsmantel, טלית  „tallith“, an dem sich die Schaufäden, ציציות „tzitzijot“, befinden, die in kunstvoller Weise verknotet sind. Der Fromme trägt sie auch unter oder über seiner Alltagsbekleidung an den vier Ecken einer Art viereckigen Unterhemdes. Sie sind weiß, der früher himmelblaue Faden fehlt, weil die richtige Herstellung der Farbe verloren gegangen ist, dafür ist ein Faden als Ersatz und Hinweis auf das Verlorengegangene länger als der andere; die ganz genau vorgeschriebenen Knoten selbst erinnern über eine Zahlensymbolik – die hebräischen Buchstaben haben auch alle einen Zahlenwert - an die Worte „Adonai ächad“, “der Herr ist einzig/einer“. Die Tefillin enthalten in vorgeschriebener Weise den Text des „Shma‘ Jisrael“ , „Höre Israel“ aus dem Deuteronomium. Selbstverständlich wird das Anlegen der rituellen Kleidungsstücke von Segenssprüchen begleitet.

Der Text des „Shma‘  Jisrael“ befindet sich auch in den מזוזות „mezuzoth“ an (fast) allen Türpfosten, entsprechend dem diesbezüglichen Gebot in diesem Text, mit koscherem Gänsekiel und koscherer Tinte auf kosheres Pergament geschrieben. Die Mezuza wird beim Eintritt in das Haus und dessen Verlassen geküsst. So erinnert man sich ständig an die Gebote und verhindert, dass man sie versehentlich nicht bedenkt und übertritt.

Voller Rituale ist die jüdische Küche, die כשר „kasher“, jidd. koscher, d.h. „zum Gebrauch geeignet“ sein soll. Hier mischen sich zahlreiche Vorschriften und Verbote für den alltäglichen Verzehr mit den Speisevorschriften für die Opfer im Tempel, weil nach dessen Fall, 70 n. Chr., der jüdische Tisch an die Stelle des Opferdienstes im Tempel treten soll. Die Vorschriften betreffen die Verwendbarkeit und die Mischung von Speisen und das Geschirr, aber auch die mögliche Reihenfolge des Verzehrs bzw. Wartezeiten dazwischen.

Ebenso ist das intime eheliche Leben rituell geregelt, vor allem, wann der Verkehr verboten ist und wann geboten, z. B. am Shabbat, weil es ja heißt, dass man sich am Shabbat freuen soll. Voraussetzung ist immer die jüdisch geschlossene Ehe und dass die Frau 7 Tage keine Blutspuren gezeigt hat und dann in ein rituelles Bad in einer מקוה „miqwä“ genommen hat.

An den Feiertagen ist das Gebet wesentlich länger und mit Gesang und ausführlicher Thoralesung festlich ausgestaltet. Auch letztere folgt einem komplexen Ritus, in dem mehrere Männer zum Lesen aufgerufen werden, das sie aber vor der Thora stehend an den Vorbeter delegieren, damit keiner wegen ggfs. schlechter Kenntnisse des Hebräischen und der traditionellen Vortragsmelodien beschämt wird. Der Speiseplan an den Feiertagen nimmt oft Bezug auf das Fest und seine Traditionen.

So wünscht man sich zu Neujahr – Mitte September meist im christlichen Kalender – ein gutes und süßes Neues Jahr, verzehrt werden u.a. dabei Apfelstücke mit Honig; zu Chanukka, dem Fest der Wiedereinweihung des Tempels nach der Entweihung durch die Diadochen, das meist kurz vor die christliche Weihnachtszeit fällt, isst man Ölgebäck, Krapfen oder Reibekuchen, weil das Chanukkawunder nach der Tradition darin bestand, dass das noch gefundene koschere Olivenöl für die ewige Leuchte im Tempel, die Menora – מנורה - , das von der Menge her nur einen Tag gereicht hätte, die Menora 8 Tage brennen ließ, bis neues koscheres Öl beschafft war. Der Ritus sieht vor, abends in den acht Tagen eine achtarmige Leuchte – acht im Gegensatz zur siebenarmigen Menora“ - im Fenster brennen zu lassen, um das Wunder zu bezeugen. Zum Wochenfest,  שבועות „shawuot“, aus dem das christliche Pfingsten hervorging, isst man  milchige Speisen und Käsekuchen, um an die Speisegesetze als wichtigen Teil der nach der Tradition an diesem Tag gegebenen Thora zu erinnern. Ein langer Erinnerungsabend ist auch wesentlicher Teil des Pässachfestes, aus dem bei den Christen Ostern wurde, bei dem abends die Geschichte des Auszugs aus Ägypten aus einem speziellen Buch der Pässach Haggada, was einfach Erzählung heißt, vorgelesen und gesungen wird, begleitet von symbolischen und rituellen Speisen, wie Bitterkraut oder Charosset, einer bräunlichen süßen Mischung, die an die Ziegel, die wir in der Knechtschaft brennen mussten, erinnern soll, bevor die eigentliche Festmahlzeit folgt. Aufwendig ist auch das Ritual beim Laubhüttenfest im Herbst, סוכות „sukkot“ bzw. Sukkes, bei dem der erwachsene Mann, aber auch seine Familie acht Tage in einer Laubhütte lebt und feiert, die einerseits an die letzte, die Herbsternte erinnert, andererseits mit dem Wohnen in Hütten während der Wüstenwanderung verknüpft ist.

Warum sind Rituale gerade im jüdischen Leben so wichtig?

Die Rituale sind für den gläubigen Juden Teil der Erfüllung seiner religiösen Pflichten, die sich aus den Geboten und Verboten der schriftlichen Thora und der mündlichen Thora, der Mishna, sowie deren Ausführungsbestimmungen im Talmud sowie den später dazu ergangenen rabbinischen Entscheidungen ableiten. Wir tun dies, weil Gott dies in seinem Heilsplan für die Welt und alle Völker, besonders aber natürlich für unser Volk so von uns gefordert hat. Wir  – bzw. unsere Seelen – haben dem am Sinai zugestimmt und die streng gläubigen Juden befolgen dies ohne wenn und aber oder nach dem Sinn zu fragen, wo der nicht ersichtlich ist.

Im Laufe der Jahrhunderte, besonders aber nach dem Fall des Tempels, ist  die Dichte der Regelungen enorm gewachsen, so dass ein streng gläubiger Mann den größten Teil seiner Zeit mit deren Erfüllung verbringt. Gleiches gilt für die Frau im Rahmen ihrer zentralen Rolle im Haus für die jüdische Küche, die Familie und die Reinheit des Shabbat. Der Gläubige freut sich darüber, diese Pflichten erfüllen zu können; das in der Diaspora entstandene Thorafreudenfest, סמחת חורה „simchat thora“, als zusätzlicher neunter Tag des Laubhüttenfestes gibt dem besonderen Ausdruck.

Gleichzeitig ist das Ritual aber auch immer Erinnerung und damit zugleich auch Ausdruck der Hoffnung auf die Wiedererrichtung des Tempels und des vollen Kultes und die postmessianische Zeit des Gottesreiches. So wird das Wissen um die zweittausend Jahre nicht mehr ausführbaren Traditionen in symbolischer Form lebendig gehalten und bewahrt.

Letztlich verdankt das jüdische Volk sein wenn auch leidvolles Überleben seit der Antike diesen intensivst gelebten Traditionen, die den Zusammenhalt und Fortbestand ermöglichten, auch wenn dies in der oft feindseligen Umwelt mit großen Opfern erkauft werden musste.

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